Schatten eines Gottes (German Edition)
»Die Kinder«, flüsterte er, »die Kinder sind unsere Rettung.«
Octavien wandte sich verächtlich ab. »Geschwätz, Wahnvorstellungen«, murmelte er und schlug den Weg zurück in die Rheingasse ein. Doch was er gesehen und gehört hatte, ging ihm nicht aus dem Kopf. Was für eine geheimnisvolle Kraft hatte die Kinder dazu getrieben, wie ein einziger Organismus zu agieren, ohne dass ein sichtbarer Anführer sie geleitet hätte? Hatte Gott selbst seine Hand im Spiel oder irgendein Aufwiegler, ein Scharlatan, der die Vertrauensseligkeit der Kinder missbrauchten wollte? Was brachte die Händler dazu, ihr Wasser und ihr Brot zu verschenken? Solche Schwärmereien führten nach seiner Ansicht nur zu Auflehnung gegen die überkommene, von Gott eingesetzte Ordnung und endeten in Aufruhr und Mord. Die Armut breiter Schichten war gottgegeben und notwendig, um das Gleichgewicht unter den Menschen zu wahren, davon war Octavien überzeugt. Wo sie verklärt wurde, verlor sie ihren Schrecken und damit ihren Zweck. Wenn die Macht des Geldes nicht mehr wirkte, wenn Gotteslohn die neue Währung war, womit sollte man dann das einfache Volk unter dem Joch halten?
Aber hatte nicht ein Mann aus Assisi die Armut gepredigt, und hatte er mit dieser gefährlichen Lehre nicht sogar den Papst beeindruckt, sodass dieser ihm erlaubt hatte, einen Orden zu gründen, den Bettelorden der Franziskaner? Stand dieser Orden gar hinter dieser Bewegung?
Und da, so als hätten seine Gedanken ihn herbeigezaubert, entdeckte er auch schon einen von ihnen. Tatsächlich, eine Braunkutte stand, ihm halb den Rücken zuwendend, bei einem Obstverkäufer und kaufte einen Apfel.
Ich dachte, die ernähren sich von Fliegen,
schoss es giftig in Octavien hoch. Schon wollte er sich abwenden, da drehte sich der Mönch um und sah ihn an. Es war zu spät, seinem Blick auszuweichen. »Gelobt sei Jesus Christus«, wurde er von ihm gegrüßt.
Octavien knirschte mit den Zähnen und wollte schon eine gottlose Erwiderung ausspucken, doch wo er einen struppigen Bart und eingefallene Wangen erwartet hatte, erblickte er ein fremdartiges Gesicht mit aristokratisch geschnittenen Zügen, haselnussbrauner Haut und glimmend schwarzen Augen über hohen Wangenknochen. Dieses Gesicht kannte er doch. Altenberg! Ja natürlich. Das war der Mönch, der einen Kinderkreuzzug vorgeschlagen hatte. Sollte er sich damit gar durchgesetzt haben? Hatten die vielen Kinder etwas damit zu tun? Zur Hölle mit den Kuttenträgern! Octavien wollte mit diesen Menschen kein Wort wechseln. »In Ewigkeit. Amen«, murmelte er rasch und machte, dass er weiterkam.
Als er vor dem Haus in der Rheingasse von seinem Tier stieg, eilte aus der gegenüberliegenden Tür ein schmächtiger Mann mit schmalen Lippen und stechenden Augen, unterm Arm eine dicke Mappe. Eine braune Samtkappe saß schief auf seinem kahlen Schädel, an seinen Fingern befanden sich Tintenflecke. Als er Octaviens ansichtig wurde, blieb er stehen. »Wer seid Ihr denn?«, blaffte er ihn an.
Octavien nahm seine Kappe vom Kopf und verneigte sich flüchtig. »Octavien de Saint-Amand. Ich bin auf der Durchreise und wohne bei meinem Onkel Frederic de Saint-Amand.«
Die Miene des Mannes wurde etwas freundlicher. »Dann seid willkommen. Ich bin Jakob Hardevust und leite das Handelshaus gleichen Namens. Tut mir leid, dass ich so grob war. Ich bin heute nicht gut aufgelegt.«
»Hardevust? Seid Ihr der Vater von Nicholas?«
»Sein beklagenswerter Onkel bin ich. Wieso? Kennt Ihr meinen Neffen?«
»Ich bin ihm kurz am Hahnentor begegnet. Er war so freundlich, mir ein Quartier anzubieten.«
»So? Nun, Ihr habt ja ein besseres gefunden. Und nun entschuldigt mich, ich habe noch ein wichtiges Schreiben aufzusetzen.«
»Nur noch eine Frage, wenn Ihr erlaubt. Wisst Ihr, weshalb ganz Köln vollgestopft ist mit Kindern?«
»Natürlich weiß ich das. Mein Neffe hält eine Rede im Dom. Habt Ihr das nicht bemerkt? Die halbe Stadt ist doch hingelaufen.«
»Oh.«
Octavien verstummte für einen Moment. »Gewiss, ich habe die Kinder gesehen, aber ich kannte den Anlass dieser Zusammenrottung nicht.«
»Ach ja, ich vergaß, dass Ihr fremd seid in der Stadt. Nicholas predigt dort, er wirbt für einen Kreuzzug der Kinder nach Jerusalem. Dafür hat er sogar Boten in andere Städte geschickt. Er behauptet, Gott selbst habe ihm den Auftrag dazu erteilt.«
Es war nicht eben Gott, dachte Octavien. Noch hatte er die aufpeitschenden Worte des dunklen Mönchs im Ohr. »Seine
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