Schatten Gottes auf Erden (German Edition)
hingestellt worden? Entschied nicht das Erkennen und Erfassen der unverrückbaren Wahrheit über Himmel und Hölle? Und gab es auch noch eine andere Wahl für den Menschen, als sich zu entscheiden, welcher Wahrheit, welcher Tradition er folgen wolle? Wagte einer gar, die eigenen Erfahrungen über diese Überlieferungen zu stellen? Wagte zu fordern: »Vergleicht! Prüft! Verbessert!«? Ja, untergrub er damit nicht jegliche Autorität – selbst seine eigene? Und wenn er sie untergrub – was erntete er dafür?
Ich gab seinen Blick zurück, und plötzlich durchfuhr mich ein unnennbares Glücksgefühl. Wenn dem so war – wenn er tatsächlich verzichtete auf diese Schranke, die alle Lehrenden um sich herum errichteten – hatte ich nicht endlich den gefunden, den ich suchte mit aller Leidenschaft meines jungen Herzens? Den, dem ich meine quälenden Fragen stellen durfte, weil er mich nicht mit Antworten aus einem erstarrten Wissensschatz abspeisen, sondern meine Wenns und Abers ernst nehmen und mit mir zusammen nach der Wahrheit suchen würde?
Schon lag mir eine dahin zielende Bemerkung auf der Zunge, aber mein Herz schlug so rasend, dass ich die Töne nicht aus der Kehle brachte und vollends hinunterschluckte, als Mulana Nafiz fortfuhr:
»Denkt aber ja nicht, dass der Mensch durch natürliche Steigerung seiner geistigen Fähigkeiten anhand der Beschäftigung mit der Natur schließlich zur Erkenntnis Allahs gelange, wie dieser Ibn-Badscha lehrt – das ist Schubba – eine heillose Verwirrung – wenn nicht gar Kufr – die unverzeihlichste Ketzerei!«
»Und wie kann man dann zu dieser Erkenntnis gelangen?« Die helle Stimme, die diese Frage tat, gehörte Ibad an, dem Vorlautesten von uns, dem die Zunge förmlich zwischen den Zähnen tanzte. (Oh, er hatte gut lachen, seine Eltern waren Araber reinster Abstammung, während uns andern das Arabisch viel schwerer fiel und selbst unser Lehrer, der diese Sprache nur in der Schule gelernt hatte, von jedem Wanderhirten der arabischen Wüste hätte Belehrungen hinnehmen müssen.)
»Kannst du das fragen?« rief Mulana Nafiz entsetzt. »Hat sich Allah nicht unserm Propheten (gelobt sei er immerdar!) zu Hunderten Malen offenbart? Nur die Glaubenssätze des Korans musst du annehmen …«
»Blindlings? Ohne zu prüfen, zu vergleichen, zu …«
Dieses entfuhr mir gegen alle Vorsicht, und vielleicht hätte ich in dem Erregungszustand, in dem ich mich befand, noch gefährlichere Dinge geäußert, doch Mulana Nafiz ließ es nicht dazu kommen.
»Schweig, du Sohn der Vermessenheit!« fuhr er mich an. »Wie kannst du die Glaubenssätze des heiligsten aller Bücher, die sich auf die ewige Wahrheit beziehen, auf eine Ebene stellen mit den Erkenntnissen suchender, aber auch irrender Menschen? Hier ist nicht von Gesundheit oder Krankheit unseres hinfälligen Leibes die Rede, sondern vom ewigen Heil oder der ewigen Verdammnis der Seele! In diesen Dingen gibt es keinen Zweifel. Unumstößlich sind die Weisungen des Korans.
Aber was unsern Leib betrifft – dieses gebrechliche Gehäuse, das der Seele Raum gibt für einen Morgen, einen Mittag, einen Abend, bis die Nacht sie umfängt, in der sie auf die Auferweckung wartet … Hat Allah es für der Mühe wertgehalten, darüber zu sprechen? Hat der Engel Gabriel dem Propheten etwas über Masern oder Scharlach verkündet? Hat er gesagt, dass die Haut des Kranken die Verunreinigungen ausscheidet, die der Fötus im Mutterleibe von dem zurückgestauten Menstrualblut erlitten hat, und hat er vorgeschrieben, wie die Reinigung vorgenommen werden muss, ob durch Aderlass oder durch Abführung? Siehst du, du Sohn des Unverstandes, das muss man eben ausprobieren, und auch, womit man den Ausbruch des Exanthems unterstützt: ob mit Kälte oder mit Wärme, mit Feuchtigkeit oder mit trockener Abreibung, damit der Heilprozess befördert werde!«
Ich blickte zu Boden und hatte Mühe, meiner Tränen Herr zu werden. Die Hoffnung, die sich eben angeschickt hatte, die ersten Knospen zu treiben, war mir jäh mit Stumpf und Stiel aus dem Herzen gerissen worden und lag zertreten zu meinen Füßen.
Fragen?
Warum Muhammad sich als Arzt nicht betätigt hatte, wohl aber Jesus? Und mit welcher Kraft der das Exanthem geheilt hatte – oh, nicht das harmlose von Masern und Scharlach, sondern das zu langem Siechtum und schließlich zum Tode führende der Lepra! Doch als ein Aussätziger zu ihm sagte: »Herr, wenn du willst, kannst du mich reinmachen!«, streckte er
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