Schatten Gottes auf Erden (German Edition)
schmutzige Gassen, deren fensterlose Lehmmauern nach Armut und Verwahrlosung rochen. Und plötzlich stieß er eine Pforte auf. »Hier wohne ich«, sagte er.
Ohne Bedenken trat ich in einen Hof ein, der so eng war, dass nur ein armseliger, halb abgestorbener Holunderbusch sein kümmerliches Dasein darin fristete. Obwohl es noch nicht Herbst war, trug er doch fast keine Blätter mehr. Unter diesem Strauch stand eine alte, halb verwitterte Bank. Auf die setzten wir uns. Im Hause regte sich nichts. Es war schon Dämmerung, aber die Fenster blieben dunkel. Lebte Karib hier denn ganz allein? Als ab er meine Frage erraten hätte, sagte er: »Die Männer sind auf Arbeit, und die Frauen brauchen zum Spinnen noch kein Licht. Das ist gut.«
Ich antwortete nicht. Nie hätte ich gedacht, dass er in einer so armseligen Umgebung hausen musste. Und warum auch? Wohnten nicht die auswärtigen Schüler in den schönen neuen Räumen der Medrese, zu dritt in je einem Zimmer der oberen Stockwerke? Und die sind im Sommer kühl, weil ein galerieartiger Vorbau den Sonnenstrahlen keinen Zutritt gestattet, und werden im Winter durch Kohlenbecken erträglich warmgehalten. Hätte er es da nicht viel besser gehabt? Auch diese Frage las mir Karib von den Augen ab. »Ich bin zu spät gekommen«, sagte er, »die Plätze in der Medrese waren alle schon vergeben.«
Nun verstand ich, warum er sich so schwer an jemanden anschloss. Und war stolz auf das Vertrauen, das er mir schenkte. Nein, ich würde ihn nicht scheel ansehen, wie es Ibad sicherlich getan hätte, wenn er hier säße statt meiner. Und vielleicht könnte ich ihm auch helfen. Könnte den Vater bitten, ihm in unserm Hause Obdach zu geben. Hatten wir nicht Raum genug?
Seltsam, wie schwer es uns gelang, ein Gespräch in Gang zu bringen. Es war, als ob sich der Staub der Gassen, durch die wir gegangen waren, nicht nur auf unsere Kleider, sondern auch auf unsere Seelen gelegt hätte.
Plötzlich aber sagte Karib, und seine Stimme klang mir so fremd, wie ich sie noch nie gehört hatte: »Willst du, dass ich ihn töte?« Mir war zumute, als hätte der Schrei eines Raubvogels die Stille und den Frieden zerrissen.
Ich wollte aufspringen, aber seine Hand legte sich mir aufs Knie.
»Du hast recht«, sagte er, nur etwas gedämpfter, »Ibad ist ein gemeiner Mensch. Er denkt, weil er reich ist und sein Vater ihm genug Sklavinnen zur Verfügung stellt, mit denen er sein Spiel treiben kann, ohne die Gesetze zu verletzen, darf er das, was andere empfinden, in den Schmutz ziehen.« Er ließ mein Knie los und legte mir den Arm über die Schulter. »Hast auch du eine Sklavin? Oder gar schon eine Gattin?« fragte er leise.
Ich verneinte mit einer Gebärde. An eine solche Möglichkeit hatte ich noch gar nicht gedacht.
»Denke ja nicht«, fuhr er fort, »dass der Umgang mit Frauen schöner ist als der mit Männern. Niemals wird eine Frau Verständnis dafür haben, was einen Mann bewegt. Und wenn der Rausch verflogen ist und du ihr Bett verlässt, wird dir zumute sein, als wärst du in einen Abgrund gestürzt, und du wirst trauriger und einsamer sein als je zuvor.
Wenn du aber einen Freund hast, mit dem du alles teilst, jedes Gefühl und jeden Gedanken, mit dem du sprechen kannst über alles, was dich bewegt, mit dem zusammen du in die Geheimnisse der Natur eindringst wie auch in die des Alls, der deinen Geist schärft, indem er deinen Gedanken bis in ihre Ursprünge nachgeht und sie bis zu ihren äußersten Grenzen verfolgt und dir dann in Zuspruch und Widerspruch die seinen entgegenhält – auch eine Klinge empfängt ihren letzten Schliff von einer anderen Klinge, wenn du so einen Freund hast und dich mit ihm in tiefster Leidenschaft verbindest, wirst du, wenn der Rausch verflogen ist, wissen, dass du nicht in einen Abgrund gestürzt bist, sondern eine Höhe erklommen hast, die auf keine andere Weise erreicht werden kann.«
Da sprang ich so hastig von der Bank, dass sein Arm von meiner Schulter fiel. Und auch er sprang auf, reckte sich neben mir zu seiner ganzen Größe empor (um einen Kopf überragte er mich) und sagte rau: »Du glaubst mir nicht? Soll ich es dir beweisen?« und griff nach meiner Hand.
Mich überkam eine nie gekannte Angst. »Lass mich nach Hause«, sagte ich gepresst, »man erwartet mich.«
»Fürchtest du dich vor mir?« Er ließ meine Hand los. »Das musst du nicht. Ich werde dich niemals zu etwas zwingen. Das, was ich suche, ist nicht zu erzwingen.« Er begleitete mich zum
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