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Schatten Gottes auf Erden (German Edition)

Schatten Gottes auf Erden (German Edition)

Titel: Schatten Gottes auf Erden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Hering
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bist du am Nabel der Welt. Es ist die Stelle, wo Adam nach der Vertreibung aus dem Paradies auf die Erde stürzte. Dort erhielt er zum Trost den weißen Stein, den Hyazinthstein aus dem Garten Eden, den ihm der Engel Gabriel auf Gottes Befehl brachte und der der Altar war, auf dem er opferte.
    Auch Abel opferte auf diesem Stein.
    Aber als Abel von Kain, seinem Bruder, erschlagen worden war, veränderte der Stein seine helle Farbe, wurde dunkel, wurde schwarz, und schwarz wird er bleiben, solange noch ein Ungläubiger das Antlitz der Erde schändet.
    Siebenmal habe ich ihn umlaufen, wie es die Regel der Wallfahrt vorschreibt. Wie drängten sich die Gläubigen an ihn heran, wie schwierig war es, ihn auch nur mit den Fingerspitzen zu berühren, aber einmal kam ich so nahe, dass meine Lippen ihn küssen konnten.
    Oh, von dieser Stelle ist der wahre Glaube ausgegangen, den schon Adam bekannt hat, und die Sintflut hat den Stein nicht überdeckt, und Noah hat ihn umkreist mit den Seinen, als er aus der Arche stieg, und unser Vater Ibrahim hat von Allah den Befehl erhalten, dort das Große Heiligtum zu errichten und den Stein in seine Mauern einzufügen, und unser Prophet (der Allmächtige segne ihn!) hat den Glauben von allen Verdunkelungen und Entstellungen gereinigt und uns geboten, unser Antlitz nach dieser Stätte zu kehren, wann immer wir beten.
    Aber von dort aus muss nun der Glaube ausstrahlen in alle Welt, und deshalb, du Milchgesicht, ergreift mich der Anblick dieses Baues hier fast so wie der der Heiligen Stätte! Mag Andalus verloren gehn. Mag der Kalif in Kairo ein Schatten sein in den Händen der Mameluken – hier erneuern sich der Glanz und die Herrschaft unseres Propheten, dem Allah dereinst den Sieg über alle Länder der Erde verleihe!«
    Mir dröhnten die Ohren. Was faselte dieser Mann? Christen trieben die Moslems aus ihren Moscheen? Nahmen ihnen eine Stadt nach der andern weg? Zwangen ihnen Tribute auf? Das konnte doch wohl nicht wahr sein! Ich wusste nur vom Gegenteil: Muhammad, ja, der hatte den Seinen den Heiligen Krieg geboten, und nun waren sie über die christlichen Länder hergefallen – aber hatte mir nicht Guram die Worte eingeprägt, die Jesus zu Petrus gesprochen hatte: »Stecke dein Schwert in die Scheide, denn wer das Schwert zieht, der wird durch das Schwert umkommen!«?
    Ein Lügner war dieser Scharif aus Andalus, wer weiß, was für ein Verbrechen ihn aus der Heimat getrieben hatte, und nun suchte er hier das Mitleid seiner Glaubensgenossen zu erwecken. Schon lag mir eine scharfe, abweisende Antwort auf der Zunge, aber da rief eine Stimme in meinem Innern: »Schweig!«, und Gurams hundertmal gehörte Ermahnungen wurden in mir laut. »Lass dich niemals mit diesen Leuten in eine Auseinandersetzung ein! Du kannst sie weder mit Logik überzeugen noch mit geschickter Wortführung überreden, denn der Geist des Widerspruchs nährt sich von Argumenten. Sie werden dich überschreien. Und selbst wenn du dann verstummst, werden sie über dich herfallen wie Schakale über einen Kadaver. Du brauchst aber trotzdem deinen Glauben nicht zu verleugnen, mein Kind. Denn du kannst nach ihm leben – überall und zu jeder Zeit.«
    Doch wie schwer das sein würde, dämmerte mir auf, als der Scharif mir sein ausgemergeltes, fanatisches Gesicht zuwandte und ich seine von Begeisterung und von Hass gleichermaßen brennenden Augen auf mich gerichtet sah. Da senkte ich die meinen und konnte einen Seufzer nicht unterdrücken.
    »Mögest du recht haben, al-Andalusi« erwiderte ich, »möge von dieser Medrese der Siegeszug der Wissenschaft ausgehen und sich verbreiten über alle Länder der Erde.«
    »Wissenschaft, Wissenschaft!« entgegnete er leidenschaftlich. »Die Gottesfurcht ist der Ursprung jeder Wissenschaft!«
    Ein Rebenblatt, etwas angegilbt, hatte sich von seiner Ranke gelöst und war ihm auf den Rockärmel gefallen. Er nahm es auf, hielt es zwischen Daumen und Zeigefinger und betrachtete es schweigend. Dann sagte er: »Wer ist imstande, ein Mittel ausfindig zu machen, durch das man dieses Blatt wieder am Weinstock befestigen könnte? Das Geheimnis des Werdens und Vergehens ist nur einem einzigen bekannt, und nutzlos bleibt jegliches Bemühen, das von ihm wegführt. Er ist der Erste und der Letzte, der Äußere und der Innere, er weiß, was in die Erde eingeht und was aus ihr hervorsprießt, denn er ist Herr über Tod und Leben. Darum steht er uns näher als unsere Halsschlagader, und in ihm allein ist

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