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Schatten Gottes auf Erden (German Edition)

Schatten Gottes auf Erden (German Edition)

Titel: Schatten Gottes auf Erden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Hering
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der Mittelpunkt all unseres Wissens zu suchen.« Zur Bekräftigung seiner Worte strich er sich den Bart mit einer eitlen Gebärde.
    Mir wurde heiß ums Herz. Hatte nicht Guram, als ich die vom Scharif zitierten Verse aus der Sure »Das Eisen« lernte, mir Worte aus dem Neuen Testament entgegengehalten: »Ich bin das A und das O, der Erste und der Letzte, Anfang und Ende!«? Wie verflocht sich nun die Offenbarung des Johannes mit der des Muhammad? Wieder eine Frage, die ich nicht stellen durfte. Dem Scharif schon gar nicht.
    Die Sonne stand schon mehrere Lanzenschäfte hoch am Himmel, es begann heiß zu werden. Und mein Mentor war immer noch nicht zu sehen. »Allah akbar!« sagte ich und sprang auf.
    Andere Lehrer hatten sich mit ihren Schülern längst in den Unterrichtsräumen niedergelassen, und man hörte ihre Stimmen von den hohen Gewölben widerhallen. Ja, es war an der Zeit, in die Kühle des Gebäudes zu treten, dessen dicke Mauern wie ein Panzer vor den Pfeilen des Tagesgestirns schützten.
    »La illaha illa 'llahu!« erwiderte der Scharif und erhob sich ebenfalls. »Welchen Lehrer willst du aufsuchen?«
    »Mulana Nafiz.«
    »Oh, da kannst du lange warten. Ich hörte vor Kurzem, wie er zu einem Kranken gerufen wurde. Doch komm mit mir. Ich will bei Ala-ud-din-Sami hören, der Ilm vorträgt. Gottesgelehrsamkeit ist besser als Heilkunde.«
    Ich folgte ihm aber nicht, sah ihm nur nach, wie er sich mit raschen Schritten entfernte. Wie alt mochte er wohl sein? Doch sicherlich schon über vierzig! Und ließ sich noch mit solchen Geschöpfen wie ich eines war, zu Füßen eines Lehrers nieder.
    Später stellte ich fest, dass er durchaus nicht der älteste war, der das tat. Es gab Lernbegeisterte, die ihr Leben damit zubrachten, von Medrese zu Medrese zu ziehen, um alle nur einigermaßen namhaften Lehrer gehört zu haben. Die kannten dann die Unterschiede der vier Rechtsschulen, die so geringfügig sind, dass ich niemals dahintergekommen bin. Doch wie viele gab es, die sich mit großer Scheingelehrsamkeit über deren Werke hertaten und mit Spitzfindigkeiten um sich warfen wie die Gaukler mit ihren Bällen. Ich habe an derlei Künsten niemals Gefallen gefunden.
    Mein Vater natürlich noch weniger. Wenn ich ihm davon erzählte, pflegte er zu sagen: »Sie sind wie Männer, die ihre Messer schleifen und schleifen, aber trotz aller erreichten Schärfe dann niemals mit ihnen schneiden. So einer sollst du nicht werden, mein Sohn.«
    Nun, das war auch nicht zu befürchten. Und Mulana Nafiz wäre auch nicht der Mann dazu gewesen, derartige Neigungen zu unterstützen. Wie gut erinnere ich mich noch der Worte, mit denen er uns in seine Wissenschaft einführte: Etwa ein Dutzend Schüler waren wir, die wir an jenem Tag auf sein Erscheinen warteten und ihn, als er endlich kam, ehrfurchtsvoll grüßend umringten.
    Er ließ sich in seiner Nische nieder – jeder Lehrer hatte einen ihm angewiesenen Ort – und wartete, bis sich auch der Letzte von uns auf die ihm gehörige Matte gesetzt hatte. Die Mauern strömten eine wohltuende Kühle aus, die Stille, die sich ausbreitete, umschloss mich und presste mir das Herz zusammen. Ich begann meine Pulsschläge zu zählen, und je höher die Zahlen stiegen, desto höher auch meine Erwartungen. Und dann zerschmetterten die ersten Sätze aus seinem Mund die Stille und diese Erwartungen.
    »Ihr seid hierhergekommen, um über Gesundheit und Krankheit, über Leben und Tod die Wahrheit zu erforschen. Glaubt ja nicht, dass ihr dieses Ziel mit Hilfe von Lehrbüchern erreichen könnt! Die Weisheit, die ihr aus Büchern schöpft, wird ein totes Wissen bleiben, wenn ihr sie nicht durch eigene Erfahrungen zum Leben erweckt!
    Eure Sinne müsst ihr schärfen! müsst sehen und hören, fühlen, riechen und schmecken lernen! Und die Beobachtungen, die ihr an den Krankenbetten macht, sorgfältig deuten und richtig einordnen.
    Freilich übersteigt der Umfang des Wissens die Kräfte eines einzelnen, und deshalb müssen wir uns auch die Erfahrungen unserer Vorgänger zunutze machen – niemals aber blindlings übernehmen, ohne zu prüfen, zu vergleichen, zu verbessern.«
    Er hielt inne und musterte uns mit scharfen Blicken, und mir kam vor, als ruhten seine Augen besonders lange auf mir, dem seine Worte so ungeheuerlich klangen, dass sie einen Aufruhr in meinem Innern entfachten. War nicht alles, was ich mir bisher an Wissen und an Kenntnissen angeeignet hatte, mir als Gegebenheit, als unumstößliche Wahrheit

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