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Schatten Gottes auf Erden (German Edition)

Schatten Gottes auf Erden (German Edition)

Titel: Schatten Gottes auf Erden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Hering
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nach dem Maghrib, dem äußersten Westen der bewohnten Erde, war die Kunde gedrungen, dass der Sultan von Samarkand selbst sich der Wissenschaft in die Arme geworfen und ein Heer von Gelehrten verpflichtet habe, nicht weniger zahlreich, nicht weniger kämpferisch, nicht weniger angesehen als die Hauptleute seiner Reiterscharen. Und so hörte man Gespräche in vielen Zungen, wenn auch Arabisch die einzige Schulsprache war, doch auch diese wurde in den verschiedensten Klangfarben laut.
    Da ich niemanden kannte und zu schüchtern war, um mich einer Gruppe der eifrig gestikulierenden Debattierer anzuschließen, ließ ich mich auf einer Bank nieder, die im Schatten eines von Rebenlaub überwucherten Daches stand, und wartete auf den Lehrer, dem mich mein Vater auf Ulug Begs Rat anvertraut hatte: einem Arzt namens Mulana Nafiz. Es war noch früh am Tage, und die Luft strich angenehm durch die Blätter des Spaliers. Da ging ein Mann an mir vorbei, an seinem grünen Turban zu erkennen als ein Scharif, ein Nachkomme des Propheten. Höflichkeit war mir anerzogen gegenüber diesen aus der Masse der Gläubigen so herausgehobenen Menschen, von denen die Moslems glauben, dass ihnen um ihres Ahnherrn willen alle Höllenstrafen erlassen wären, selbst wenn sie die schändlichsten Taten begangen hätten. Ich sprang also auf und bot ihm meinen Sitz an.
    »Friede sei mit dir, Sohn der Zuvorkommenheit«, sagte er, »rücke nur ein wenig zur Seite, wir haben nebeneinander Platz. Weißt du nicht, dass der Prophet (gelobt sei er immerdar!) gesagt hat: ›Wer sitzt, während ein anderer vor ihm steht, möge seinen Sitzplatz in der Hölle einnehmend?«
    Das wusste ich freilich nicht – im Koran steht nichts davon – doch sind ja Tausende von Muhammads Aussprüchen nach Überlieferungen seiner Gefährten in Umlauf gesetzt, wer kann sie alle kennen? Ich rückte also höflich zur Seite, musste aber schmunzeln, so komisch klang sein Arabisch. Um ihn nicht zu kränken, senkte ich das Gesicht.
    Er setzte sich neben mich, zog sich den alten unansehnlichen Kaftan, den er trug, über die Beine und sah mich freundlich an. Er war nicht mehr jung. Zwar sah man in seinem Bart keine grauen Fäden, die rote Henna-Farbe, mit der er ihn eingestrichen hatte, mochte sie wohl verdecken, doch die Kerben, die das Leben in sein Gesicht gezeichnet hatte, ließen sich nicht verbergen.
    Trotz seiner schlechten Kleider strahlte etwas von ihm aus, das mich daran hinderte, eine Frage an ihn zu richten. So saßen wir eine Zeit lang nebeneinander.
    »Du wunderst dich über mein Aussehen, meine Sprache«, begann er schließlich (es war ja nicht schwer, diese Gedanken zu erraten). »Und es ist wahr, ich komme von weit her. Aus meiner Heimat haben mich die Ungläubigen vertrieben.«
    Ich horchte auf. »Was für Ungläubige?« fragte ich verwundert.
    »Nun, diese Menschen, die Maryams Sohn für einen Gott halten und zu ihm und seiner Mutter beten.«
    Ich muss ihn sehr erstaunt angesehen haben, denn er sagte: »Wie, du glaubst mir nicht? Hast nie etwas von Andalus gehört? Wo in unsern Minaretten jetzt ihre Glocken hängen und unsere Brüder Schritt für Schritt hinausgedrängt wurden – aus Toledo, aus Sevilla, aus Córdoba? Nur Granada hält sich noch, doch frag nicht um welchen Preis. Nein, ich kann nicht leben in einer Stadt, die an Ungläubige Tribute zu zahlen gezwungen ist!«
    Er schwieg und blickte vor sich hin. Sein grüner Turban, der aus einer so langen Stoffbahn geschlungen war, dass er für den fein geschnittenen Kopf zu schwer zu sein schien, rutschte ihm aufs rechte Ohr, doch er rückte ihn nicht zurecht. Und ich glaube auch nicht, dass er die Zikade hörte, die plötzlich neben uns mit hellen, durchdringenden Tönen zu zirpen begann. »Nein!« sagte er so laut und unvermittelt, dass ich zusammenfuhr, »ich kann dort nicht mehr leben! Und als ich hörte, was der Ritter Ruy González de Clavijo von Samarkand berichtete – der König von Kastilien schickte ihn ja vor mehr als zehn Jahren hierher, und er wurde von euerem Herrscher viel gnädiger empfangen, als er es wert war, weil er wohlweislich verschwieg, wie man in seinem Lände mit den Gläubigen umgeht – oh, als ich davon erfuhr, fand ich in meinem Herzen keine Ruhe mehr. Ich schloss mich einer Gruppe von Mekkapilgern an, die von Granada in See stachen, und wallfahrtete zu den Heiligen Stätten.
    Die Heiligen Stätten! Der Ort, der das erste Heiligtum der Menschheit trug! Wenn du dort stehst, Knabe,

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