Schatten ueber Broughton House
verkündete sie und nahm die Schale mit der dunklen, recht übelriechenden Flüssigkeit zur Hand.
Ob das wohl das Gebräu war, das sie tranken, um sich in eine für allerlei Visionen empfängliche Stimmung zu versetzen?
Oder war es ein Gift, das Coffey ihrer Nichte zu verabreichen gedachte? Doch was auch immer dieser Mann im Schilde führte, sie würde ihn daran hindern!
Sie nickte ihrem Vater kurz zu und machte sich mit dem Tablett auf den Weg. Frank beeilte sich derweil, die restlichen Gefangenen von ihren Fesseln zu befreien.
Megan schwebte leichtfüßig den Korridor entlang und versuchte sich vorzustellen, wie eine glühende Anhängerin dieser Religion wohl laufen würde. Dem Anlass entsprechend gewiss sehr feierlich und getragen. Und stolz natürlich. Es würde sie mit Stolz erfüllen, von Coffey erwählt worden zu sein. Und weil sie nun einmal Lady Helena Scarle war, dachte Megan, würde sie es genießen, dass alle Blicke sich auf sie richteten und daher aus jedem Schritt und jeder Geste ein formvollendetes Schauspiel machen.
Nachdem sie bei der weit geöffneten Tür des Zeremonienraums angelangt war, sah Megan zuallererst zum Altar hinüber. Das Kind lag noch immer reglos darauf ausgestreckt, und sie war zutiefst erleichtert, keine Anzeichen von Blut zu entdecken. Sie hatte zwar vermutet, dass man das Opfer nicht vor der Rückkehr von Lady Scarle vornehmen würde, sicher war sie sich indes nicht gewesen.
Der Hohepriester stand mit weit ausgestreckten Armen hinter dem Altar und berührte mit seinen Händen Kopf und Füße des kleinen Mädchens. Als er Megan auf der Türschwelle verharren sah, stimmte er einen lauten Gesang an und hob Arme und Augen gen Himmel. Megan trug das Tablett auf ebenfalls leicht erhobenen Armen vor sich her und schritt auf den Altar zu.
Wenn sie doch nur wüsste, was sie zu tun hatte! Je mehr Zeit sie für ihren Vater und die bewusstlosen Männer gewinnen konnte, desto besser. Beim Altar angekommen, blieb sie neben dem Priester stehen. Sie hielt das Gesicht gesenkt, da sie sich vorstellen konnte, dass Coffey solche Ehrerbietung wünschte. Zudem verbarg sie so ihre Augen, die natürlich nicht von einem strahlenden Violettblau waren.
Er wandte sich ihr zu und nahm die Schale von dem Tablett. Dabei sagte er etwas, das sie nicht verstand. Megan konnte nur hoffen, dass keine Antwort von ihr erwartet wurde. Dem war wohl so, denn schon hatte er sich wieder seinen Anhängern zu-gewandt, hob die Schale über seinen Kopf und begann zu verkünden:
„Hör uns an, oh Inti, Gott der Sonne. Wir sind deine Kinder. Wir sind auserwählt, dein Blut weiterzutragen. Komm und weise uns den Weg. Nimm dieses unser Opfer an, das reinste der Reinen. Gib uns das Geschenk deiner Unsterblichkeit. Und mach uns zu den Deinen.“
Er führte die Schale an seine Lippen. Megan ahnte, dass er sie danach ihr reichen würde, und dann reihum seinen Anhängern, damit auch sie daraus tranken. Da sie aber gewiss nicht vorhatte, dieses widerlich riechende Zeug zu kosten, würde sie nun rasch handeln müssen.
Sie packte das Tablett - welches recht kunstvoll aus solidem Metall geschmiedet war - mit beiden Händen, hob in einer feierlichen Geste die Arme und ließ es dann mit aller Kraft auf Coffeys Hinterkopf niedersausen. Es gab einen lauten Knall, der Musik in ihren Ohren war, dann sackte Coffey in sich zusammen. Die Schale glitt ihm aus den Händen, schlug auf den Altar auf und fiel schließlich auf den Boden, wo sie schlingernd davonrollte.
Durch die Schar der Versammelten ging ein entsetztes Raunen, doch in diesem Augenblick kamen auch schon Theo, ihr Vater und die anderen Männer hereingestürmt.
Megan verlor keine Zeit, sondern stürzte sich auf Coffey, der über dem Altar zusammengebrochen war, und zerrte ihn von Caya herunter. Hastig begann sie an den Schnüren zu ziehen, mit denen das Kind auf dem Altar festgebunden war.
Nachdem die Versammelten sich von ihrem ersten Schreck über das plötzliche Auftauchen der Männer erholt hatten, war der Raum nun von empörtem Geschrei und dem dumpfen Klang von Fausthieben erfüllt. Megan kümmerte sich nicht weiter darum, sondern konzentrierte sich ganz darauf, ihre Nichte zu befreien.
Die Knoten erwiesen sich als sehr hartnäckig, aber schließlich hatte sie die Fessel um Cayas Brust gelöst und wandte sich den Schnüren um ihre Beine zu. Nach einigem Ziehen und Zerren gaben auch diese letztlich nach, und Megan beugte sich vor, um das Mädchen in ihre Arme zu
Weitere Kostenlose Bücher