Schatten ueber Broughton House
herüber: Sie hatte die Situation mit einem Blick erfasst. „Theo! Welch freudige Überraschung ... und Lady Scarle.“ Kyria ließ ihre Augen über das freizügige Dekollete besagter Dame schweifen. „Ach, du meine Güte, Ihnen ist sicher ganz kalt! Möchten Sie sich meine Stola ausleihen?“
Lady Scarle rang sich ein kühles Lächeln ab. „Besten Dank, aber mir ist wohlig warm, Lady Kyria. Oder soll ich lieber Mrs. Mclntyre sagen?“
„Ganz wie Sie wünschen“, erwiderte Kyria ungerührt. Hochgewachsen, mit feurig rotem Haar und grünen Augen war sie seit ihrem Debüt von der Londoner Gesellschaft gefeiert wor den, wo sie dank ihrer Schönheit und kühlen Gelassenheit bald den Beinamen „Die Göttin“ trug. Selbst nun, wo sie auf die dreißig zuging, Ehefrau und Mutter war, gab es keine, die sich mit ihr hätte messen können.
Lady Scarle, einige Jahre älter als Kyria, war bei deren Debüt bereits verheiratet gewesen und hatte fassungslos mit ansehen müssen, wie Kyria bald all den Ruhm genoss, der einst ihr selbst Vorbehalten gewesen war. Die beiden Frauen hatten sich daher nie gut verstanden.
„Theo.“ Kyria wandte sich ihrem Bruder zu und legte einnehmend ihre Hand auf seinen Arm. „Ich hatte mich schon gefragt, was wohl mit dir geschehen sei. Wenn ich mich nicht täusche, so habe ich dir den nächsten Tanz versprochen.“
„Oh ja.“ Theos Miene hellte sich auf. „Ja, das hast du.“ Dann drehte er sich um und verbeugte sich vor der anderen Dame. „Lady Scarle, wenn Sie uns bitte entschuldigen würden
Lady Scarle blieb keine andere Wahl, als zu lächeln und höflich: „Aber natürlich“ zu murmeln.
Rasch eilte Theo mit Kyria die Treppe hinunter. Sie neigte sich näher zu ihm und flüsterte: „Nun schuldest du mir aber etwas.“
„Dessen bin ich mir wohl bewusst. Ich war gerade bemüht, mich aus einer Einladung zu einem ihrer Empfänge herauszuwinden, und wusste mir nicht mehr anders zu helfen. Was ist nur in mich gefahren, heute Abend hierher zu kommen?“, fragte er mit mitleiderregender Miene.
Kyria lachte. „Ja, ich war selbst ganz überrascht, dich hier anzutreffen.“
„Wahrscheinlich habe ich mich gelangweilt. Wenn ich nur wüsste, was mit mir los ist! Ich fühle mich so ... rastlos-' Theo zuckte die Achseln.
„Vielleicht ist es an der Zeit, zu einem neuen Abenteuer aufzubrechen?“, mutmaßte Kyria.
Theo, ältester Sohn des Duke of Broughton, hatte einen Großteil seines Erwachsenenlebens damit verbracht zu reisen und die Welt zu erkunden. Ferne und noch unentdeckte Gegenden hatten ihn schon immer fasziniert, und er fand sogar, dass die körperlichen Anstrengungen einer solchen Expedition nur noch zu deren Reiz beitrugen.
Erst vor wenigen Monaten war er von seiner letzten Reise zurückgekehrt, die ihn nach Indien und Burma geführt hatte. Meist ruhte er sich danach eine Weile aus, erholte sich und verbrachte Zeit mit seiner geliebten Familie, bevor ihn erneut das Fernweh packte.
„Ich weiß es nicht.“ Er runzelte die Stirn. „Edward Horn bereitet eine Expedition in den Kongo vor. Er möchte, dass ich mitkomme.“
„Es klingt aber nicht so, als ob du das wolltest.“
„Nein, nicht sonderlich“, gestand Theo und blickte selbst verwundert drein. „Ich habe Horn gesagt, dass er nicht auf mich zählen solle. Es ist schon seltsam. Da fühle ich mich so rastlos und habe dennoch keine Lust zu reisen. Vielleicht werde ich einfach zu alt dafür.“
„Oh ja ... immerhin hast du nun das sagenhafte Alter von vierunddreißig Jahren erreicht und bist wahrlich schon recht gebrechlich“, neckte Kyria ihn.
„Du weißt ganz genau, was ich meine. Alle haben mir immer gesagt, dass ich eines Tages erwachsen und des Reisens müde werden würde. Vielleicht ist es ja nun soweit.“ Er bedachte seine Schwester mit einem etwas schiefen Lächeln. „Zumindest habe ich immer dann, wenn ich erwäge aufzubrechen, das Gefühl, etwas würde mich zurückhalten.“
Kyria betrachtete ihren Bruder aufmerksam, und ihre anfängliche Verwunderung wich Besorgnis. „Theo, geht es dir gut? Du klingst fast so, als wärst du ... unglücklich.“
Dies war keineswegs ein Adjektiv, das Kyria gewöhnlich verwendete, um ihren Bruder zu beschreiben, ging der doch stets all seine Unternehmungen mit großer Begeisterung an.
Theo betrachtete sie mit ernster Miene. „Du kennst mich doch, Kyria, und weißt, dass ich nicht zu jenen gehöre, die ständig über ihr Leben nachsinnen oder darüber, ob
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