Schatten über den Weiden: Roman (German Edition)
grauen Uniform mit weißer Schürze einen Teewagen hereinschob. »Da ist ja Gertie. Du erinnerst dich doch noch an Kelsey, Gertie?«
»Sicher, Ma’am.« Die Augen der Frau füllte sich mit Tränen. »Das letzte Mal waren Sie fast noch ein Baby. Sie bettelten immer um Plätzchen.«
Kelsey schwieg. Was sollte sie der Fremden mit den feuchten Augen auch erwidern? Naomi legte eine Hand über die Gerties und drückte sie liebevoll. »Wenn Kelsey das nächste Mal kommt, mußt du welche backen. Danke, Gertie, ich schenke selbst ein.«
»Ja, Ma’am.« Schniefend wandte sich Gertie ab, doch dann drehte sie sich noch einmal um. »Sie sieht aus wie Sie, Miß Naomi. Ganz genauso.«
»Ja«, bestätigte Naomi weich und blickte zu ihrer Tochter. »Das tut sie.«
»Ich erinnere mich nicht an sie.« Kelseys Stimme klang feindselig, als sie zwei Schritte auf ihre Mutter zutrat. »Und an dich auch nicht.«
»Damit habe ich auch nicht gerechnet. Möchtest du Zucker? Zitrone?«
»Soll das eine Filmszene werden?« fauchte Kelsey, »Mutter und Tochter versöhnen sich beim Tee. Erwartest du von mir, daß ich einfach hier sitze und mit dir Assamtee schlürfe?«
»Es ist Earl Grey, glaube ich. Und um die Wahrheit zu sagen, Kelsey, ich weiß nicht, was ich erwarte. Wut vermutlich. Du hast ein Recht, wütend zu sein. Anschuldigungen, Forderungen, Schuldzuweisungen.« Mit überraschend ruhigen Händen reichte Naomi Gabe eine Tasse. »Ehrlich gesagt, glaube ich, daß alles, was du sagst oder tust, gerechtfertigt ist.«
»Warum hast du mir geschrieben?«
Um ihre Gedanken ordnen zu können, füllte Naomi eine weitere Tasse. »Das hatte viele Gründe, einige davon sind egoistisch, andere nicht. Ich hoffte, du wärst neugierig genug, mich sehen zu wollen, du warst schon als Kind neugierig, und außerdem wußte ich, daß du gerade eine schwierige Zeit durchmachst.«
»Wie kannst du irgend etwas über mein Leben wissen?«
Naomis Blick war ebenso unergründlich wie der Rauch, der vom Kaminfeuer aufstieg. »Du hast mich für tot gehalten, Kelsey, ich dagegen wußte, daß du quicklebendig warst. Also habe ich dein Leben verfolgt. Das war mir sogar vom Gefängnis aus möglich.«
In Kelsey stieg nackte Wut hoch, und sie mußte den Drang niederkämpfen, den Teewagen mit dem zarten Porzellan durch den Raum zu stoßen. Welche Wonne ihr das bereiten würde! Aber gleichzeitig würde sie sich zum Narren machen, und nur dieser Gedanke hielt sie davon ab, einen Tobsuchtsanfall zu bekommen.
Gabe nippte an seinem Tee und schaute zu, wie sie um
Selbstbeherrschung rang. Reizbar, entschied er, leidenschaftlich, aber klug genug, sich zurückzuhalten. Vielleicht war sie ihrer Mutter ähnlicher, als beide ahnten.
»Du hast mir nachspioniert.« Kelsey schleuderte ihr die Worte förmlich entgegen. »Wen hast du dazu angeheuert? Einen Privatdetektiv?«
»Es war bei weitem nicht so melodramatisch. Mein Vater hat dein Leben verfolgt, solange er konnte.«
»Dein Vater.« Kelsey ließ sich niedersinken. »Mein Großvater.«
»Ja. Vor fünf Jahren ist er gestorben. Deine Großmutter starb ein Jahr nach deiner Geburt, und ich war ein Einzelkind. Somit sind dir Tanten, Onkel und Neffen erspart geblieben. Nun weiter. Was für Fragen du auch hast, ich werde sie dir beantworten, aber bitte laß uns beiden noch ein wenig Zeit, ehe du dir ein Urteil über mich bildest.«
Kelsey konnte nur an eine einzige Frage denken, die ständig in ihrem Kopf hämmerte. »Hast du diesen Mann getötet? Hast du Alec Bradley umgebracht?«
Naomi schwieg einen Moment, dann hob sie die Tasse an die Lippen. Über den Rand hinweg sah sie Kelsey fest an, ehe sie die Tasse lautlos wieder absetzte.
»Ja«, antwortete sie schlicht, »ich habe ihn umgebracht.«
»Entschuldige Gabe.« Naomi stand am Fenster und sah ihrer davonfahrenden Tochter nach. »Es war wirklich unentschuldbar, dir das zuzumuten..«
»Ich habe deine Tochter kennengelernt, weiter nichts.«
Müde lächelnd kniff Naomi die Augen zusammen. »Du warst schon immer ein Meister der Untertreibung, Gabe.« Sie drehte sich um, so daß sie im vollen Sonnenlicht stand. Daß es die feinen Linien um ihre Augen deutlich hervorhob, erste Anzeichen des Alters, kümmerte sie wenig. Zu lange hatte sie das Tageslicht entbehren müssen. »Ich hatte Angst, und als ich sie sah, wurde ich wieder an vieles erinnert. Einiges habe ich mir vorstellen können, anderes nicht. Alleine wäre ich mit der Situation nicht fertiggeworden.«
Gab erhob
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