Schatten über den Weiden: Roman (German Edition)
säumten Ulmen, die sicher älter waren als das Haus, das, geradezu anmaßend modern, seine Umgebung zu beherrschen schien.
Kelsey blieb eine Weile still im Auto sitzen. Nicht weil sie die reizvolle Architektur oder die schöne Landschaft bewundern wollte, sondern weil sie wußte, daß es kein Zurück mehr geben würde, wenn sie dieser Straße weiter folgte.
Longshot war also eine Art Grenzpunkt. Eine angemessene Bezeichnung, fand Kelsey, schloß die Augen und zwang sich zur Ruhe. Sie mußte sich vernünftig verhalten. Es würde kein Zusammentreffen geben, bei dem sie sich ihrer totgeglaubten Mutter weinend in die Arme warf.
Sie waren Fremde, die Zeit brauchten, um zu entscheiden, ob sich das ändern sollte. Nein, berichtigte Kelsey sich, sie würde diese Entscheidung treffen. Sie wollte keine Zuneigung, sie wollte noch nicht einmal Entschuldigungen hören. Sie war nur hier, um Antworten auf brennende Fragen zu bekommen.
Und die bekäme sie nicht, ermahnte sich Kelsey selbst, wenn sie nicht weiterfuhr.
Feigheit war noch nie eine ihrer Charaktereigenschaften gewesen, sagte sich Kelsey, als sie den Wagen startete. Dennoch waren ihre Hände eiskalt, als sie das Steuer umklammerte und den Wagen zwischen den steinernen Pfosten hindurch die Auffahrt entlang zum Haus ihrer Mutter lenkte.
Im Sommer schirmten die drei hohen Weiden, nach denen die Farm benannt worden war, das Haus ab. Jetzt zeigte sich ein erstes zaghaftes Grün, Bote des nahen Frühlings, auf den gebogenen Zweigen. Dahinter sah Kelsey weiße dorische Säulen, Dachträger einer großen Veranda, die sich vor dem dreistöckigen Gebäude im alten Plantagenstil befand. Sehr feminin, dachte Kelsey, fast einer Königin würdig und bezaubernd wie die Epoche, in deren Stil das Anwesen gebaut war.
In einigen Wochen würde der Garten in einem Farbenmeer explodieren. Kelsey sah das Bild vor sich, hörte das
Summen der Bienen und das Zwitschern der Vögel und roch sogar fast den Duft von Flieder und Glyzinien.
Unwillkürlich richtete sie den Blick auf die Fenster des oberen Stockwerks. Welcher Raum ist es, fragte sie sich, in dem der Mord begangen worden war.
Ein Schauer lief ihr über den Rücken, als sie den Motor abstellte. Ursprünglich hatte sie direkt zur Vordertür gehen und energisch anklopfen wollen, doch statt dessen ging sie langsam zu einer Seite des Hauses, von dem hohe Glastüren in einen gepflasterten Hof führten.
Von hier aus konnte sie einige Nebengebäude sehen; gepflegte Stallungen und eine Scheune, die beinahe so stattlich wie das Haus wirkte. In der Ferne, wo sich die Berge über das Land erhoben, erkannte sie grasende Pferde und das schwache Glitzern von Wasser in der Sonne.
Auf einmal schob sich eine andere Szene über dieses Bild. Bienen summten, Vögel sangen, die Sonne brannte, und der süße, intensive Duft von Rosen hing in der Luft. Jemand schwang sie lachend hoch und immer höher, bis sie den starken, sicheren Rücken eines Pferdes unter sich spürte.
Kelsey preßte eine Hand vor den Mund, um einen leisen Schreckenslaut zu unterdrücken. Sie erinnerte sich nicht an diesen Ort, konnte sich gar nicht daran erinnern. Ihre Fantasie ging mit ihr durch, das war alles. Fantasie gepaart mit Nervosität.
Dennoch hätte sie schwören können, ein Lachen gehört zu haben, ein wildes, freies Lachen.
Wärmesuchend schlang sie die Arme um ihren Körper und trat einen Schritt zurück. Sie sollte ihren Mantel anziehen, sagte sie sich. Sie mußte lediglich ihren Mantel aus dem Auto holen. Doch in diesem Moment kamen ein Mann und eine Frau um die Ecke, Arm in Arm.
Die beiden in Sonnenlicht getauchten Gestalten wirkten so überirdisch schön, daß Kelsey einen Augenblick lang meinte, sie seien gleichfalls ein Produkt ihrer Fantasie.
Der Mann war hochgewachsen und bewegte sich mit jener geschmeidigen Anmut, die manchen Männern eigen
war. Sein dunkles windzerzaustes Haar kräuselte sich ungebärdig über dem Kragen eines ausgeblichenen Flanellhemdes. Seine dunkelblauen Augen in dem kantigen Gesicht weiteten sich kurz in einem Anflug leiser Überraschung.
»Naomi«, seine Stimme klang tief und leicht gedehnt, »du hast Besuch.«
Die Beschreibungen ihres Vaters hatten sie in keiner Weise auf das vorbereitet, was sie nun sah. Ihr war, als blickte sie in einen Spiegel und sähe ihr gealtertes Ebenbild. Einen Augenblick lang glaubte sie, ohnmächtig zu werden.
Naomis Hand schloß sich fest um den Arm ihres Begleiters; eine automatische Reaktion,
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