Schatten über den Weiden: Roman (German Edition)
allerdings hielt sie für gerechtfertigt.«
»Sprich nicht in diesem Ton mit mir!« Milicent beugte sich vor. »Dein Vater hat alles getan, um dich zu beschützen, dir eine anständige Erziehung und stabile Familienverhältnisse zu bieten. Und zum Dank dafür machst du ihm Vorwürfe.«
»Vorwürfe?« Kelsey schlug die Hände über dem Kopf zusammen, wohl wissend, daß dieser Ausbruch ihr Minuspunkte eintragen würde. »Ich habe ihn zur Rede gestellt, habe Antworten verlangt und wollte die Wahrheit wissen.«
»Und nun, da du sie erfahren hast, bist du nun zufrieden?« Milicent neigte leicht den Kopf. »Für dich, nein, für uns alle wäre es besser gewesen, wenn du deine Mutter
weiterhin für tot gehalten hättest. Aber diese Person war schon immer egoistisch, dachte nur an sich.«
Aus Gründen, die sie niemals hätte erklären können, nahm Kelsey den Fehdehandschuh auf. »Hast du sie schon immer so gehaßt?«
»Ich habe mich nie täuschen lassen. Philip war von ihrem Äußeren, von dem, was er für Lebensfreude und Schwung hielt, geblendet. Und er hat für seinen Fehler teuer bezahlt.«
»Und ich sehe aus wie sie«, meinte Kelsey sanft, »was auch erklärt, warum du mich immer so angeschaut hast, als könnte ich jeden Augenblick ein furchtbares Verbrechen begehen – oder zumindest einen unverzeihlichen Bruch der Etikette.«
Seufzend lehnte Milicent sich zurück. Sie würde dies nicht abstreiten, denn dafür gab es keinen Grund. »Natürlich habe ich mir Gedanken darüber gemacht, wieviel du wohl von ihr geerbt hast. Du bist eine Byden, Kelsey, und die meiste Zeit hast du der Familie Ehre gemacht. Aber jeder Fehler, den du machtest, trug ihren Stempel.«
»Ich ziehe es vor, meine ganz persönlichen Fehler zu machen.«
»So wie diese Scheidung«, erwiderte Milicent scharf. »Wade stammt aus einer guten Familie. Sein Großvater mütterlicherseits ist Senator, und seinem Vater gehört eine der größten und angesehensten Werbeagenturen des Ostens.«
»Und Wade ist ein Ehebrecher.«
Ungeduldig hob Milicent die Hand, an der ihr diamantenbesetzter Ehering wie Eis glitzerte. »Du gibst natürlich ihm die Schuld, und nicht dir oder der Frau, die ihn verführt hat.«
Beinahe belustigt lächelte Kelsey. »Das ist richtig. Ich gebe ihm die Schuld. Die Scheidung ist endgültig und abgeschlossen, Großmutter. In diesem Punkt verschwendest du deine Zeit.«
»Und dir gebührt die zweifelhafte Ehre, in der Familiengeschichte der Bydens die zweite zu sein, die sich
scheiden läßt. Im Falle deines Vaters ließ es sich nicht vermeiden. Du dagegen hast das getan, was dir schon zur zweiten Natur geworden ist. Du hast überreagiert. Aber das steht auf einem anderen Blatt. Jetzt will ich wissen, was du hinsichtlich des Briefes zu unternehmen gedenkst.«
»Meinst du nicht, daß das nur mich und meine Mutter etwas angeht?«
»Dies ist eine Familienangelegenheit, Kelsey. Dein Vater und ich sind deine Familie.« Wieder tippte sie mit dem Finger gegen die Lehne, bemüht, ihre Worte sorgfältig zu wählen. »Philip ist mein einziges Kind. Sein Glück und Wohlergehen standen für mich immer an erster Stelle. Und du bist sein einziges Kind.« Mit echter Zuneigung griff sie nach Kelseys Hand. »Ich will doch nur dein Bestes.«
Was sollte die darauf antworten? Sosehr die starren Verhaltensregeln ihrer Großmutter an ihren Nerven zerrten, wußte Kelsey doch, daß sie sie trotz allem liebte. »Das weiß ich, und ich will mich auch nicht mir dir streiten, Großmutter.«
»Und ich mich nicht mit dir.« Zufrieden streichelte Milicent Kelseys Hand. »Du warst immer ein gutes Kind, Kelsey. Keiner, der dich und Philip kennt, könnte an der Zuneigung zwischen euch zweifeln. Ich weiß, daß du nichts tun würdest, was ihn verletzt. Daher halte ich es für das Sinnvollste, wenn du mir diesen Brief gibst und mich diese Angelegenheit für dich regeln läßt. Es ist absolut nicht nötig, daß du dich mit ihr in Verbindung setzt oder dich in diesen Strudel der Gefühle hineinziehen läßt.«
»Ich habe mich bereits mit Mutter in Verbindung gesetzt. Ich habe sie heute morgen besucht.«
»Du hast . . .« Milicents Hand zuckte hoch. »Du hast sie besucht? Du bist zu ihr gefahren, ohne das vorher mit uns zu besprechen?«
»Ich bin sechsundzwanzig Jahre alt, Großmutter. Naomi Chadwick ist meine Mutter, und ich brauche niemanden um Erlaubnis zu fragen, wenn ich sie besuchen
will. Entschuldige, wenn ich dich aufgeregt haben sollte, aber ich habe
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