Schatten über den Weiden: Roman (German Edition)
einer Staffelei und trug gerade karminrote Farbe auf die Leinwand auf.
Als ob sie mit einem Schwert ein erbittertes Duell mit der Leinwand führen würde, die schon vor Farben und Formen nahezu explodierte, dachte Kelsey. Das Gesicht ihrer
Mutter, das sie nur von der Seite sah, wirkte steinern, aber ihre Augen sprühten Feuer.
Kelsey wollte sich vorsichtig zurückziehen, da der innere Kampf, der hier ausgefochten wurde, sie nichts anging. Doch Naomis Kopf flog bereits herum, und ihre zornigen Augen schienen ihre Tochter förmlich zu durchbohren.
»Entschuldige«, begann Kelsey, doch ihre Stimme ging im Dröhnen der Musik unter. Naomi drehte sie bis auf eine erträgliche Lautstärke herunter. »Ich wollte dich nicht stören.«
»Schon gut.« Die Leidenschaft in Naomis Augen erstarb schnell, sowie sie nicht mehr auf die Leinwand blickte. »Ich reagiere mich gerade ein wenig ab.« Sie legte den Pinsel beiseite und griff nach einem Tuch, um sich die Hände abzuwischen. »Ich habe schon eine ganze Weile nicht mehr gemalt.«
»Das Bild ist großartig.« Kelsey trat näher und betrachtete das wilde Farbengemisch und die immer noch feucht glänzenden kraftvollen Pinselstriche. »So ursprünglich.«
»Stimmt. Du bist ja ganz außer dir.«
»O verdammt!« Kelsey steckte die Hände in die Hosentaschen. »Manchmal kommt es mir so vor, als trüge ich ein Schild auf der Stirn, auf dem steht, wie ich mich fühle.«
»Du hast eben ein sehr ausdrucksvolles Gesicht.« Wie sie selber früher einmal, erinnerte sich Naomi. »Ich gehe davon aus, daß das Familientreffen ein Mißerfolg war.«
»Es war ein totaler Reinfall. Meinetwegen haben sich Vater und Großmutter zerstritten. Und er hat sich außerdem noch mit Candace entzweit.«
»Weil du hierbleibst.«
»Weil ich so bin, wie ich bin.« Kelsey griff nach dem unberührten Glas mit Eistee, das Naomi sich mitgebracht hatte, und trank gierig. »Milicent hat mich nicht nur aus ihrem Testament gestrichen, sondern sie hat mich regelrecht verstoßen. Für sie existiere ich einfach nicht mehr.«
»Ach, Kelsey.« Naomi legte ihr die Hand auf den Arm. »Ich bin sicher, sie meint es nicht so.«
Glas klirrte auf Glas, als Kelsey ihren Eistee absetzte. »Natürlich meint sie es so.«
Naomis Mitleid und Anteilnahme verwandelten sich in Wut. »Das sieht ihr ähnlich. Es tut mir leid, daß ich dir solche Schwierigkeiten bereitet habe.«
»Ich habe sie mir bereitet«, explodierte Kelsey. »Ich ganz allein. Es wird Zeit, daß ihr alle kapiert, daß ich für mich selbst denken, entscheiden und handeln kann! Wenn ich nicht hier sein wollte, dann wäre ich auch nicht hier. Ich bin nicht auf Three Willows, um ihnen eins auszuwischen oder um dich versöhnlich zu stimmen. Ich bin hier, weil ich es will.«
Naomi holte tief Atem. »Du hast recht. Du hast vollkommen recht.«
»Wenn ich woanders hinfahren wollte, dann würde ich das tun. Aber ich lasse mich weder durch Drohungen noch durch Bestechung noch dadurch, daß man mir Schuldgefühle einimpft, dazu bringen, etwas aufzugeben, das mir viel bedeutet. Meine Familie bedeutet mir viel, Three Willows bedeutet mir viel, und du bedeutest mir auch viel.«
»Tja.« Naomi griff selbst nach dem Glas, wobei ihre Hand zitterte. »Danke.«
Kelsey beherrschte sich nur mühsam. Am liebsten hätte sie gegen den Topf mit Geranien getreten. »Da gibt’s ja wohl nichts zu danken. Du bist meine Mutter, ich mag dich, und ich bewundere dich für das, was du aus deinem Leben gemacht hast. Sicher, die ganzen verlorenen Jahre fehlen mir, aber ich mag dich so, wie du bist. Ich werde bestimmt nicht bei meiner Familie angekrochen kommen und so tun, als gäbe es dich nicht, nur weil es Milicent so lieber wäre.«
Naomi mußte sich mit der Hand am Tisch festhalten, sonst wäre sie auf dem Stuhl zusammengesunken. »Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie es ist, wenn die eigene erwachsene Tochter sagt, daß sie ihre Mutter so mag, wie sie ist. Ich liebe dich, Kelsey.«
Kelseys Zorn verrauchte. »Ich weiß.«
»Ich wußte ja nicht, zu was für einem Menschen du herangewachsen warst, bis ich dich wiedersah. Ich liebte das kleine Mädchen, das ich verloren hatte. Dann kamst du hierher, und du hast mir eine Chance gegeben. Ich bin so stolz auf dich, auf die Frau, die du jetzt bist. Wenn du morgen fortgehen und nie mehr wiederkommen würdest, so hast du mir doch mehr gegeben, als ich mir je hätte träumen lassen.«
»Ich gehe nirgendwohin.« Voller Gefühl ging Kelsey
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