Schatten über den Weiden: Roman (German Edition)
auf ihre Mutter zu und breitete die Arme aus. »Ich bin genau da, wo ich sein möchte.«
Mit geschlossenen Augen nahm Naomi den Duft ihrer Tochter in sich auf. »Ich würde jetzt gern sagen, daß ich alles wieder gutmache. Daß ich einen Weg finde, um sie zum Einlenken zu bewegen.«
»Das brauchst du nicht. Mach dir deswegen keine Gedanken.« Kelsey hatte sich beruhigt und wich zurück. »Ich bin nur so verdammt sauer.« Wieder schlug ihre Stimmung um, und sie ging erregt auf und ab. »Und ich bin gekränkt. Ich hätte nie gedacht, daß es so wehtut. Sie ist überzeugt, daß mir an ihrem Geld sehr viel liegt, und so benutzt sie es wie auch meine Gefühle gegen mich. Sie will auf diese Weise Macht über mich gewinnen.«
»Macht ist für Milicent so lebensnotwendig wie die Luft zum Atmen. Das war schon immer so.«
»Sie konnte die Verfügungen meines Großvaters nicht ändern. Das muß sie zur Weißglut gebracht haben, denn daß sie ihren Willen nicht durchsetzen kann, kann und darf nicht sein. Und Dad hat sich so aufgeregt. Er hat sie angeschrien, obwohl er noch nie zuvor die Stimme gegen sie erhoben hat.«
»Doch, das hat er schon einmal getan.« In Naomis Lächeln lag eine Art grimmiger Befriedigung. »Das ist allerdings schon eine Weile her. Ich bin froh, daß er für dich eingetreten ist.«
»Ich wünschte, ich könnte das auch so sehen. Ich fand die Art, wie sie aufeinander losgingen, entsetzlich. Dieses ganze Theater hat Vater und Candace einander entfremdet,
und das ist meine Schuld, ob ich nun im Recht oder im Unrecht bin. Großmutter ist so unnachgiebig, sie weigert sich einfach, die Dinge auch einmal von meinem Standpunkt zu betrachten.« Hatte man ihr nicht einst dieselben Eigenschaften nachgesagt? Kelsey schauderte bei dem Gedanken.
»Dann hat sie zwei Möglichkeiten«, meinte Naomi nachdenklich. »Entweder sie gibt nach, oder sie wird einsam sterben.«
»Ich muß daran glauben, daß sich alles wieder einrenkt«, murmelte Kelsey. »Ich muß es einfach. Ob Großmutter und ich jemals wieder miteinander klarkommen ist fraglich, jedenfalls nicht nach dem heutigen Tag. Sie hat sogar den Vorfall mit Pride gegen mich ausgelegt. Sie sagte, daß du wahrscheinlich einen deiner Gangsterfreunde – Originalton Milicent – dazu gebracht hast, dem Pferd die Droge zu verabreichen. Schließlich, wenn du schon einmal einen Mann getötet hast . . .« Entsetzt brach Kelsey ab.
»Warum sollte ich dann davor zurückschrecken, ein Pferd umzubringen?« führte Naomi den Satz zu Ende. »Ja, warum eigentlich?«
»Tut mir leid.« Voller Ekel vor sich selbst rieb sich Kelsey die schmerzenden Schläfen. »Ich bin etwas überreizt.«
»Das macht nichts. Sie ist mit Sicherheit nicht die einzige, die auf diese Idee gekommen ist. Einer der Gründe, warum ich mich hier abreagiere«, Naomi wies auf die Leinwand, »ist nämlich das neueste Gerücht, das hier kursiert. Angeblich habe ich Prides Tod arrangiert, um die Versicherungssumme zu kassieren.«
Kelsey ließ die Hände sinken und ballte die Fäuste. »So eine Schweinerei! Niemand, der dich kennt, könnte das glauben.«
»Leider ist Derartiges in der Praxis schon vorgekommen. In dieser Welt gibt es auch viel Gemeinheit, Kelsey. Und das Gerücht wird sich verbreiten.« Sie griff wieder zum Pinsel, als böte er ihr Halt. »Obwohl man es mit einem einfachen Rechenexemplar widerlegen könnte.
Pride war zwar hoch versichert, aber lebendig war er noch viel mehr wert, auf der Rennbahn und als Deckhengst. Aber dieses ganze Gerede weckt Erinnerungen. Bei mir und bei anderen.«
Sie führte den Pinsel wieder etwas ruhiger über die Leinwand. »Im Gefängnis war die Malerei eine Art Therapie für mich, mehr noch, sie bot mir die Möglichkeit durchzuhalten, denn beim Malen konnte ich meine Gefühle ausleben. Wer im Gefängnis sitzt, möchte auf keinen Fall Aufmerksamkeit erregen, sei es durch Zorn, Kummer oder Angst, ganz besonders nicht durch Angst.«
»Erzähl mir doch mehr darüber« bat Kelsey ruhig. »Wie war es dort?«
Schweigend malte Naomi weiter. Sie hatte schon auf diese Frage gewartet, denn daß sie einmal kommen würde, war unvermeidbar. Menschen wie ihre Tochter wollten auf jede Frage eine Antwort, für jedes Problem eine Lösung, das war ein fester Bestandteil ihres Charakters.
Nun, sie würde ein weiteres Bild malen, diesmal allerdings mit Worten statt mit dem Pinsel.
»Du wirst dort vollkommen entblößt«, begann sie ganz ruhig, als wollte sie sich beweisen,
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