Schatten über den Weiden: Roman (German Edition)
daß all das lange hinter ihr lag. »Und damit meine ich nicht nur die Kleider, obwohl das eine der ersten Demütigungen ist. Man nimmt dir alles, deine Kleider, deine Freiheit, deine Rechte, deine Hoffnungen. Du hat nur das, was sie dir zugestehen. Man schreibt dir vor, wann du morgens aufstehst, wann du ißt, wann du zu Bett gehst. Was du willst und was du fühlst, interessiert niemanden.«
Kelsey trat zu ihr. Die Vögel begrüßten zwitschernd den Frühling, und ein Duft von Blumen und Farbe hing in der Luft.
»Du ißt, was man dir vorsetzt«, fuhr Naomi fort. »Und nach einer Weile gewöhnst du dich sogar daran. Du vergißt, wie es ist, in einem Restaurant zu essen oder einfach nur nachts aufzuwachen und in die Küche, an den Kühlschrank zu gehen.« Sie seufzte leise. »Es ist leichter, wenn
man all das vergessen kann. Wenn du zu viel an die Welt draußen denkst, dann drehst du durch, weil du weißt, daß du nicht mehr dazugehörst. Du siehst die Berge, die Blumen, die Bäume; du siehst, wie die Jahreszeiten wechseln. Doch es liegt außerhalb deiner Welt, es hat mit dir nichts mehr zu tun. Du darfst nicht mehr der Mensch sein, der du bist. Und wenn du dich verzweifelt nach Gesellschaft, nach Freunden sehnst, du kannst dich niemandem anschließen.«
Naomi wechselte den Pinsel, malte sich beim Sprechen alle in ihr tobenden Empfindungen von der Seele. »Einige Frauen führten einen Kalender. Ich tat das nicht. Ich wollte nicht daran erinnert werden, daß die Tage zu Wochen, die Wochen zu Monaten und die Monate zu Jahren wurden, mit derselben Monotonie. Ich hätte es nicht ertragen. Manche hatten Fotos von ihrer Familie und ihren Kindern dabei und sprachen oft von ihnen. Oder schmiedeten Pläne für die Zeit nach ihrer Entlassung. Ich konnte das nicht. Für mich war es einfacher, mich auf die Routine zu konzentrieren.«
»Aber du warst einsam«, murmelte Kelsey. »Du mußt entsetzlich einsam gewesen sein.«
»Das ist die schlimmste Strafe. Die Einsamkeit, und daß man keinerlei Privatsphäre hat. Es sind nicht die Gitter. Jeder denkt, es wären die Gitter, die dich einengen. Aber das stimmt nicht.«
Sie holte tief Atem und zwang sich weiterzusprechen. »In deiner Freizeit konntest du lesen oder fernsehen. Modezeitschriften waren sehr beliebt, aber nach einigen Jahren habe ich keinen Blick mehr hineingeworfen. Es tat zu weh zu sehen, wie die Dinge sich änderten, sogar wenn es sich um so banale Kleinigkeiten wie die Rocklänge handelte.«
»Hattest du Besuch?«
»Mein Vater, Moses. Was ich auch sagte, ich konnte sie nicht davon abbringen, wiederzukommen. Der Himmel weiß, daß ich sie sehen wollte, auch wenn ich litt, sobald sie wieder fort waren. Ich sah meinen Vater altern. Vermutlich
war das für mich das Schlimmste, zu beobachten, wie die Jahre ihre Spuren hinterließen. Das Gesicht meines Vaters war mein Kalender.«
»Das letzte Jahr war das schwerste. Ich sollte auf Bewährung entlassen werden, und es sah so aus, als würde dem Antrag stattgegeben. Zu wissen, daß die Freiheit greifbar nah ist und doch Angst davor zu haben, das zerrte an meinen Nerven. Wie sollte es weitergehen? Die Tage zogen sich dahin, ich hatte viel zuviel Zeit zum Nachdenken, zum Hoffen. Dann durfte ich wieder Zivilkleidung anlegen. Mein Vater brachte mir ein Kostüm; graue Nadelstreifen, sehr konservativ. Aber meine Hände zitterten so sehr, daß ich die Bluse nicht zuknöpfen konnte. Als ich durch das Tor ging, tat mir die Sonne in den Augen weh. Dabei ging es mir den Umständen entsprechend gut, denn es war ein ganz ordentliches Gefängnis, und wir wurden anständig behandelt, meistens jedenfalls. Trotzdem erschien mir die Sonne an jenem Tag so grell, daß ich kaum etwas sehen konnte. Und dann sah ich zuviel.«
Wieder tauschte sie die Pinsel aus, die Augen starr auf die Leinwand gerichtet. »Willst du den Rest wirklich hören?«
»Sprich weiter«, flüstere Kelsey. »Bring es zu Ende.«
»Ich sah, wie alt und gebrechlich mein Vater geworden war, und ich sah den neuen, leuchtendweißen Cadillac, in dem er mich nach Hause brachte. Ich weiß zwar, daß wir etwas geredet haben, aber ich kann mich an kein einziges Wort erinnern. Nur daran, daß sich alles so schnell zu bewegen schien, und daß die Straßen überfüllt waren. Und ich hatte Angst, Angst vor der Freiheit. Wir hielten bei einem Restaurant. Leinenservietten, Blumen auf dem Tisch, Wein. Mein Vater mußte für mich bestellen wie für ein Kind, weil ich nicht mehr
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