Schatten über den Weiden: Roman (German Edition)
sich Rooney daran, wie er auf den Baum geklettert war, mit klopfendem Herzen und vor der Brust baumelnder Kamera. »Man könnte sagen, ich war zur rechten Zeit am rechten Ort.«
»Naomi sagt, es sei Notwehr gewesen, Alec Bradley habe sie bedroht und vergewaltigen wollen.«
»Ich weiß, daß sie das ausgesagt hat. Aber sie konnte es nicht beweisen.«
»Sie waren doch dabei! Sie müssen doch gesehen haben, ob sie Angst hatte, ob er sie bedroht hat!«
Wie ein Mann, der im Begriff ist, ein lang geprobtes Gebet zu sprechen, faltete Rooney die Hände auf seinem Schreibtisch und antwortete: »Ich sah, wie sie ihn ins Haus ließ. Sie tranken etwas, sie stritten sich. Heute wie damals kann ich nicht bezeugen, was genau zwischen ihnen gesprochen wurde. Dann gingen sie nach oben.«
»Sie ging nach oben«, verbesserte Kelsey. »Er folgte ihr.«
»Ja, soweit ich das sagen kann. Ich ergriff die Gelegenheit beim Schopf und kletterte auf den Baum, weil ich dachte, sie würden in ihr Schlafzimmer gehen.«
»Weil er dort schon öfter war?« bohrte Kelsey weiter.
»Nein, ich habe nichts dergleichen beobachtet. Aber es war erst die dritte Nacht, die ich den Besitz observiert hatte, und die erste, in der die anderen Mitglieder des Haushalts abwesend waren.«
Er hielt die Hände gefaltet und die Augen ruhig und fest auf sie gerichtet. »Einige Minuten vergingen. Beinahe wäre ich wieder vom Baum geklettert. Doch dann kamen sie ins Schlafzimmer, Naomi zuerst. Sie schienen sich immer noch zu streiten.«
Er erinnerte sich an den Ausdruck in Naomis Gesicht. Ärger und Abscheu zeichneten sich darauf ab und Angst, ja, auch Angst.
»Für eine kurze Zeit hat sie mir den Rücken zugekehrt.« Er räusperte sich. »Dann fuhr sie herum und hatte die Waffe in der Hand. Ich konnte sie beide durch das Fenster sehen. Er hob die Hände und wich zurück, sie schoß.«
Kelsey war, als griffe ein eisiger Finger nach ihrem Hals. »Und dann?«
»Und dann erstarrte ich regelrecht vor Schreck. Ich bin nicht stolz darauf, aber ich war noch jung. Ich hatte noch nie . . . ich konnte mich nicht rühren«, betonte er. »Ich sah, wie sie zu der Stelle ging, wo er zusammengebrochenwar, und sich über ihn beugte. Ich sah, wie sie zum Telefonhörer griff. Dann hab’ ich mich davongemacht und mich in mein Auto gesetzt, bis ich die Sirenen hörte.«
»Sie haben nicht die Polizei verständigt?«
»Nein, nicht sofort jedenfalls. Das war töricht von mir und hätte mich meine Lizenz kosten können. Aber dann ging ich hin, gab ihnen den Film und machte meine Aussage.« Er löste seine ineinander verschränkten Hände, denn seine Finger schmerzten schon vor dem Druck. »Ich habe nur meine Arbeit getan.«
»Und alles, was Sie sahen, war eine schöne, lebenssprühende Frau, der die Situation über den Kopf wuchs und die deshalb einen Mann getötet hat.«
»Ich wünschte, ich könnte Ihnen etwas anderes sagen. Ihre Mutter hat ihre Strafe abgesessen. Es ist lange vorbei.«
»Nicht für mich.« Kelsey erhob sich. »Und wenn ich Sie nun engagieren würde, Mr. Rooney? Jetzt und hier? Ich möchte, daß Sie dreiundzwanzig Jahre zurückgehen und den Fall neu aufrollen. Ich will alles über Alec Bradley wissen.«
Kalte Angst stieg in Rooney hoch. »Lassen Sie die Dinge ruhen, Kelsey. Sie ändern nichts, indem Sie alte Wunden aufreißen. Glauben Sie, Sie tun Ihrer Mutter einen Gefallen, wenn Sie sie das alles noch einmal durchleben lassen?«
»Vielleicht nicht. Aber ich will zurückgehen, Schritt für Schritt, bis ich alles verstehe. Werden Sie mir helfen?«
Er musterte sie aufmerksam, sah aber eine andere Frau vor sich, eine Frau, die blaß und gefaßt in einem überfüllten Gerichtssaal saß, äußerlich gefaßt. Nur ihre Augen verrieten sie, diese verzweifelten Augen.
»Nein, das werde ich nicht tun. Und ich rate Ihnen, sich das gut zu überlegen. Denken Sie an die Konsequenzen.«
»Ich habe mir alles sehr gut überlegt, Mr. Rooney. Und ich komme immer wieder zu demselben Schluß. Meine Mutter hat die Wahrheit gesagt, und ich werde das beweisen, mit oder ohne Ihre Hilfe. Guten Tag!«
Lange nachdem die Tür hinter Kelsey zugefallen war, saß Rooney immer noch regungslos da. Als seine Hände nicht länger zitterten, griff er zum Telefon und wählte.
Ihr nächstes Ziel war die Universität. Während der langen Wartezeit in dem engen Büro ihres Vaters konnte sie sich beruhigen. Es war Balsam für ihre Seele, wieder von Büchern umgeben zu sein, die vertrauten
Weitere Kostenlose Bücher