Schatten über den Weiden: Roman (German Edition)
Gerüche und Geräusche aufzunehmen. Vermutlich war sie deswegen immer wieder hierher zurückgekehrt. In dieser Welt war Lernen oberstes Gebot, und auf jede Frage gab es eine Antwort.
Philip trat ein und wischte sich Kreideflecken von den Fingern. »Kelsey! Jetzt ist mein Tag gerettet. Ich wäre schon früher hiergewesen, aber ich hab’ mein Seminar ein bißchen überzogen.«
»Ach, das Warten macht mir nichts aus. Ich hatte gehofft, daß du ein paar Minuten Zeit für mich hast.«
»Die ganze nächste Stunde.« Eigentlich wollte er sie ja dazu verwenden, seine letzte Vorlesung für heute vorzubereiten, aber das konnte warten. »Wenn du den restlichen Nachmittag Zeit hast, dann führe ich dich zum Essen aus, sobald ich hier fertig bin.«
»Heute nicht, danke. Ich habe noch etwas zu erledigen. Dad, ich muß mit dir reden.«
»Mach dir wegen deiner Großmutter keine Sorgen. Ich regele das schon.«
»Deswegen mache ich mir auch keine Sorgen. So wichtig ist die Sache nicht.«
»O doch.« Er faßte sie an den Schultern und streichelte ihre Arme. »Ich werde einen derartigen Bruch innerhalb der Familie nicht dulden, und schon gar nicht den Versuch, dich um dein Erbe zu bringen.« Erregt ging er in dem kleinen Raum auf und ab, wie er es immer tat, wenn er über etwas nachdachte. »Deine Großmutter ist eine bewundernswerte und beeindruckende Frau, Kelsey. Ihre schwache Seite ist leider, daß sie unter dem Vorwand der Liebe bei der Familie nur ihre eigenen Wertvorstellungen durchsetzen will.«
»Du mußt sie nicht in Schutz nehmen oder ihre Handlungsweise rechtfertigen. Ich weiß, daß sie mich auf ihre Weise liebt. Nur ist ihre Weise nicht immer leicht zu ertragen.« War nie leicht zu ertragen gewesen, korrigierte sich Kelsey im stillen. »Ich weiß auch, daß sie es nicht gewöhnt ist, daß ihr jemand in die Quere kommt. Aber diesmal muß sie akzeptieren, was ich aus meinem Leben mache. Ich kann mich davon nicht beeinflussen lassen.«
Philip blieb stehen und nahm einen gläsernen Briefbeschwerer von seinem Schreibtisch. »Ich möchte nicht, daß ihr euch entzweit.«
»Ich auch nicht.«
»Wenn wir beide gemeinsam zu ihr gehen würden . . .«
»Nein.«
Seufzend nahm er seine Brille ab und putzte sie; mehr
aus Gewohnheit als aus Notwendigkeit. »Kelsey, sie ist nicht mehr jung, und sie ist deine Großmutter.«
Aha, dachte Kelsey. So versuchte er, sie milde zu stimmen. »Es tut mir leid, aber ich kann in diesem Fall keine Zugeständnisse machen. Ich weiß, daß du zwischen die Fronten geraten bist. Auch das tut mir leid. Diesmal kann Milicent nicht ihren Willen durchsetzen, Dad, und wenn wir mal ganz ehrlich sind: Ich war nie das, was sie wollte.«
»Kelsey . . .«
»Ich bin Naomis Tochter, und das hat sie nie vergessen können. Jetzt kann ich nur hoffen, daß sie im Laufe der Zeit einsieht, daß ich auch deine Tochter bin.«
Vorsichtig klappte Philip seine Brille zusammen und legte sie auf seinen mit Papieren übersäten Schreibtisch, neben eine zerlesene Ausgabe von King Lear. »Sie liebt dich, Kelsey. Sie kämpft nur gegen die Umstände.«
»Ich bin der Anlaß für die Umstände«, entgegnete Kelsey ruhig. »Ich bin das Motiv und der Anlaß, ein Kind, um das zwei Menschen gekämpft haben, die schon lange nichts mehr füreinander empfanden. Daran führt kein Weg vorbei.«
»Es ist doch lächerlich, daß du dir Vorwürfe machst.«
»Keine Vorwürfe, das ist nicht das richtige Wort. Aber vielleicht fühle ich mich in gewisser Hinsicht verantwortlich. Ja, das ist es«, bestätigte sie, als er den Kopf schüttelte. »Dir und ihr gegenüber. Deswegen bin ich hier. Du mußt mir erzählen, was passiert ist.«
Philip war plötzlich der ganzen Sache überdrüssig. Erschöpft rieb er sich die Stirn. »Das haben wir doch alles schon hinter uns, Kelsey.«
»Du hast das Thema nur grob umrissen. Du hast dich in jemanden verliebt, den du trotz des Widerstandes deiner Familie geheiratet hast. Du hattest ein Kind mit dieser Frau. Und irgendwann einmal muß etwas zwischen euch schiefgegangen sein.«
Sie trat zu ihm. Zwar litt sie darunter, ihm Schmerz zufügen zu müssen, aber sie mußte die Wahrheit wissen. »Ich bitte dich ja nicht, mir jede Kleinigkeit auseinanderzusetzen,
aber du kanntest schließlich die Frau, die du geheiratet hast, du hast sie einmal geliebt. Wenn du also bereit warst, sie vor ein Gericht zu bringen, um das Sorgerecht für dein Kind zu erstreiten, wenn du Anwälte und Privatdetektive zu Hilfe
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