Schatten über den Weiden: Roman (German Edition)
einen ernsthaften Bewerber um die Triple Crown, der bereits zwei Zacken erworben hatte. Ihm schwirrte der Kopf, die Presse bedrängte ihn, und seine Tage waren damit ausgefüllt, das Training zu überwachen. In drei Wochen fanden die Belmont Stakes statt.
Auf keinen Fall wollte sie ihn von seinem Weg zum Ziel ablenken, ein Ziel, von dem sie wußte, daß es ihm viel mehr bedeutete als Geld und Ruhm. Für Gabe würde der Sieg beim Triple Crown die Bestätigung sein, daß er nicht nur etwas erreicht, sondern Außergewöhnliches vollbracht hatte.
Außerdem wollte sie vermeiden, daß ihr guter Rat wie ein Bumerang auf sie zurückprallte. Man sollte sich von der Vergangenheit lösen.
Nur sie selbst konnte sich offenbar nicht vollständig davon befreien. Je länger sie Naomi kannte und je größer ihre Zuneigung zu ihrer Mutter wurde, desto unwahrscheinlicher erschien es Kelsey, daß sie kaltblütig einen Mann getötet haben sollte.
Darüber, daß Naomi den Abzug der Waffe betätigt und damit einem Leben ein Ende bereitet hatte, gab es keinen Zweifel. Naomi hatte es nicht nur zugegeben, die Geschworenen
hatten sie auch verurteilt, und es hatte sogar einen Augenzeugen gegeben.
Diesen Teil ihrer Vergangenheit konnte Kelsey nicht zu den Akten legen, sie mußte erst mit Charles Rooney sprechen.
Sie genoß die Fahrt, obwohl der Highway voll war. Aber der Frühling hatte seinen Höhepunkt erreicht, und das frische Grün, das sich überall zeigte, und die milde Luft übten eine beruhigende Wirkung auf sie aus. Kelsey fuhr mit geöffnetem Verdeck, und aus dem Radio klang Chopin in voller Lautstärke. Sie hielt es für besser, über das, was sie vorhatte, im Augenblick nicht nachzudenken.
Der Sekretärin, mit der sie den Termin vereinbart hatte, den Namen Kelsey Monroe zu nennen, konnte man wohl nicht als direkte Lüge werten. Es war eine Vorsichtsmaßnahme, damit Rooney sie nicht sofort mit Naomi in Verbindung brachte.
Zum ersten Mal war sie von ihren Prinzipien abgewichen, dachte sie. Eigentlich verachtete sie Menschen, die Notlügen für entschuldbar hielten oder einfach aus Bequemlichkeit schwindelten. Und nun hatte sie sich selbst auf diesen unsicheren Boden begeben, um ihr Ziel zu erreichen – doch nach Rechtfertigungen konnte sie später suchen.
Auch die Ausreden, die sie vorgebracht hatte, um sich den Nachmittag freinehmen zu können, lasteten ihr auf der Seele. Sie hatte Besorgungen und einige Verabredungen vorgegeben und Naomi gesagt, sie wolle ihre Familie besuchen, was sie ihr auch geglaubt hatte.
Was der Nachmittag auch bringen mochte, Kelsey glaubte nicht, daß sie Naomi davon erzählen würde. Zum ersten Mal, seit sie Pride verloren hatte, schien Naomi wieder zu sich selbst gefunden zu haben. Niemand rechnete damit, daß High Water seine Leistung vom zweiten Rennen der Triple Crown auf den mörderischen eineinhalb Meilen von Belmont wiederholen könnte.
Der Punkt war gemacht, der Triumph gebührte ihnen, nun konnten sie die Früchte ihrer Mühe ernten.
Und Kelsey konnte sich ein paar Stunden davonstehlen, um die Vergangenheit zu erforschen.
Ehe sie losfuhr, hatte sie auf einer Straßenkarte die Route ausgeschaut. Und obwohl sie sich in Alexandria nicht sonderlich auskannte, fand sie das Gebäude ohne Schwierigkeiten. Sie stellte ihren Wagen in der Tiefgarage ab.
Die Furcht vor dem Ungewissen machte sie nervös, ihre Hände wurden feucht, und sie spürte ein flaues Gefühl im Magen. Um Zeit zu gewinnen, zog sie ganz gemächlich die Handbremse an, stieg aus, schloß den Wagen ab und verstaute die Schlüssel im Reißverschlußfach ihrer Handtasche.
Was konnte schon passieren, fragte sie sich. Was konnte schlimmer sein als das Wissen, daß die eigene Mutter einen Menschen getötet hatte? Was Charles Rooney ihr zu sagen hatte, konnte sie daher wohl kaum noch schocken. Sie hegte nur die verschwommene Vorstellung, er könnte vielleicht Ordnung in das Durcheinander ihrer Gedanken bringen, damit sie ein für allemal Naomi als die Frau akzeptieren konnte, die sie heute war, und die Vergangenheit endlich abgeschlossen wurde.
Der Fahrstuhl trug sie von der Garage in die gedämpfte Stille des mit Teppichboden ausgelegten Korridors der fünften Etage. Zu beiden Seiten des Flurs waren große Fenster und Glastüren mit Namensschildern. Hinter den Türen arbeiteten Menschen an riesigen Computeranlagen.
Kelsey erschauerte. Wie fühlte man sich wohl, wenn man einen ganzen langen Arbeitstag wie auf dem Präsentierteller
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