Schatten über den Weiden: Roman (German Edition)
als das Holzstück zu Boden fiel.
»Captain Tipton?«
Er fuhr herum. Mit der Brille, den bauchigen grauen Ohrenschützern und dem mit roten Flecken übersäten Hemd hätte er ohne weiteres in einem Horrorfilm mitspielen können.
»O Gott, haben Sie sich verletzt?«, fragte Kelsey entsetzt.
»Was? Wo?« Erschrocken vergewisserte Tipton sich, daß alle Finger noch dran waren. »Ach, das.« Grinsend klopfte er sich auf die Brust. »Kirschsaft. Meine Frau sieht es nicht gern, daß ich in guten Klamotten hier arbeite.«
Kelsey hatte weiche Knie, lehnte sich an die Werkbank und fluchte leise.
»Hab’ ich Sie erschreckt?« Immer noch kichernd nahm Tipton die Ohrenschützer ab und schob die Brille hoch. »Setzen Sie sich doch.«
»Nein, danke.«
»Ich baue ein paar Regale.« Er hob ein breites, flaches
Brett hoch und prüfte, ob es sich verzogen hatte. »Ein altes Spielchen zwischen mir und meiner Frau. Ich bastele Regale, und sie füllt sie mit allem möglichen Zeug. So sind wir beide zufrieden.«
»Sehr nett. Haben Sie ein paar Minuten Zeit?«
»Die werd’ ich schon erübrigen können. Limonade?« Ohne auf ihre Zustimmung zu warten giff er nach einem großen Plastikkrug und schenkte zwei Pappbecher voll. »Wie ich hörte, hatten Sie da draußen noch mehr Probleme.«
»Leider. Es ist doch ein eigenartiger Zufall, daß Renos Leben wie sein Tod ein so genaues Spiegelbild vom Leben und Tod seines Vaters sein soll?«
»Die Welt ist voll seltsamer Zufälle, Miß Byden.« Doch dieser Fall machte Tipton mehr als nachdenklich. Er hatte sein Dossier über Benny Morales fertiggestellt und nur Stunden vor Renos Selbstmord die letzten Details hinzugefügt. Vierundzwanzig Stunden später, und alles wäre vielleicht ganz anders gekommen. »Jedenfalls ist eine Ihrer Fragen beantwortet. Sie wissen, wer Ihr Pferd getötet hat.«
»Reno wollte Pride nicht töten, dessen bin ich mir absolut sicher.« Kelsey nippte an ihrer Limonade. Viel zu sauer und voller Fruchtfleisch, stellte sie fest. Tiptons Frau mußte sie selbst gemacht haben. »Jemand hat ihn benutzt, Captain. Auch das kommt in unserer Welt häufig vor. Menschen, die andere Menschen benutzen.«
»Da kann ich Ihnen nicht widersprechen.«
»Meine Mutter benutzte Alec Bradley, um meinen Vater eifersüchtig zu machen, um ihre eigene Unabhängigkeit zu beweisen, ja, sogar um Gerüchte zu schüren. Aber ich frage mich, wozu Alec Bradley meine Mutter benutzt hat.«
Das Mädchen hat einen scharfen, logisch arbeitenden Verstand, stellte Tipton fest. Er langte nach einem Stück Sandpapier und begann, eine gebogene Holzleiste abzuschmirgeln. »Sie ist eine schöne Frau.«
»Hier geht es nicht um Sex, Captain. Eine Vergewaltigung hat nicht nur mit Sex zu tun.«
Tipton stieß vernehmlich den Atem aus. »Mag sein.
Aber wir haben nur ihre Aussage, daß es sich um eine versuchte Vergewaltigung gehandelt hat.«
»Ich glaube ihr. Sie doch auch. Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, warum – immer vorausgesetzt, meine Mutter sagte die Wahrheit – Alec Bradley sich ausgerechnet diese Nacht ausgesucht hat, um sie zu attackieren? Die beiden hatten sich doch schon seit Wochen getroffen. Und sie ist nicht der Typ Frau, der sich auch dann noch mit einem Mann abgibt, wenn er sie mißbraucht hat. Oder sie bedroht.«
Tipton bearbeitete weiter das Holz. Er wollte einen Schaukelstuhl bauen, als Geburtstagsgeschenk für seine Enkelin.
»Wenn sie die Wahrheit gesagt hat, Miß Byden, wenn. Er hatte getrunken. Sie haben sich in aller Öffentlichkeit gestritten, und Ihre Mutter hat ihm den Laufpaß gegeben und das noch deutlich gemacht, indem sie ihm ein Glas französischen Champagner ins Gesicht schüttete. So etwas können bestimmte Männer schwer verdauen.« Sachte blies Tipton den Staub fort. »Aber, wie ich schon sagte, es gibt keine Beweise.«
»Ihr Nachthemd war zerrissen. Sie hatte am ganzen Körper Schrammen und blaue Flecke.« Als Tipton nur die Achseln zuckte, gab Kelsey einen unwirschen Laut von sich. »Ja, ja, die kann sie sich genausogut selbst beigebracht haben. Aber wenn nicht, wie kann man das beweisen? Sie haben doch sicher Nachforschungen über Bradley angestellt. Wenn es da noch eine andere Frau gäbe, die er mißbraucht oder bedroht hat, würde das doch für Naomi sprechen, oder nicht?«
»Ich habe aber keine solche Frau aufgetrieben. Außerdem kommen viele Vergewaltigungen erst gar nicht zur Anzeige, besonders nicht die von der Art, um die es hier geht.
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