Schatten über den Weiden: Roman (German Edition)
Sozusagen Kavaliersdelikte.«
Diese Bezeichnung mochte er nicht. Kavaliersdelikt. Damit wurde eine grausame, hinterhältige Tat verharmlost.
»Vor zwanzig Jahren hatten die Menschen noch eine andere
Einstellung. Bradley hatte zwar einen schlechten Ruf, aber Gewalttätigkeit wurde ihm nie nachgesagt. Er steckte tief in Schulden«, fuhr Tipton gedankenverloren fort. »So um die Zeit herum, als er anfing, Ihre Mutter zu treffen, hatte er bereits einiges zurückgezahlt, ungefähr zwanzigtausend Dollar. Aber er benötigte mindestens noch einmal so viel, um sich aus dem Dreck zu ziehen.«
»Also brauchte er Geld, und meine Mutter hatte genug.«
»Er ist sie nie mehr als um ein paar tausend Dollar angegangen.« Tipton legte die Holzleiste beiseite. »Ihren eigenen Angaben zufolge hat er sie nie um große Summen gebeten. Und neben einigen anderen Ungerreimtheiten fand ich das mehr als merkwürdig, denn Bradley war eigentlich immer darauf aus gewesen, die Frauen auszunehmen.«
»Er könnte ja auf Zeit gespielt haben. Oder . . . er könnte aus einer anderen Quelle Geld erwartet haben.«
»Hab’ ich auch schon dran gedacht.« Tipton zog einen Schokoriegel aus der Gesäßtasche, brach ihn durch und bot Kelsey eine Hälfte an. »Obwohl ich den Gedanken nie weiterverfolgt habe, hätte ich doch zu gern gewußt, wo er die zwanzigtausend her hatte. Er kann sie natürlich beim Pferderennen gewonnen haben, aber es hieß, er würde mehr verlieren als gewinnen, und meistens handelte es sich dann nur um minimale Beträge. Großes Mundwerk«, fügte Tipton mit vollem Mund hinzu. »Gab immer groß damit an, daß er gerade einen dicken Deal laufen hatte. Nur Schaumschlägerei, soviel ich weiß.«
»Aber wenn es stimmte, hatte dieser Deal mit meiner Mutter zu tun.« Kelsey ging im Schuppen auf und ab, während sich Gedanken formten und Gestalt annahmen. »Sie war fertig mit ihm, sagte ihm, die Beziehung sei beendet. Er geriet in Panik und bedrängte sie. Wenn sie mit ihm Schluß machte, war der Deal für ihn gelaufen, und er brauchte dringend Geld. Viele Leute wußten das. Aber wer hätte ihn dazu benutzen können, daß er sich an meine Mutter heranmacht?«
Die Antwort auf diese Frage traf sie wie ein Schlag. Die Hand, die den Pappbecher hielt, krampfte sich zusammen.
»Das ist die Gefahr, wenn man alte Steine umdreht«, meinte Tipton freundlich, »man weiß nie, was darunter zum Vorschein kommt. Ich habe Ihren Vater nie mit Alec Bradley in Verbindung bringen können. Und ich habe es weiß Gott versucht. Ich habe kraft meines Amtes die Kontoauszüge Ihres Vaters angefordert und genau unter die Lupe genommen, um diese Zahlung von zwanzigtausend Dollar zu finden. Nichts. Die Telefonrechnung war auch sauber. Keine Anrufe von oder an Bradley, weder von dem Haus in Potomac noch von seinem Büro in der Universität.«
»So etwas hätte er nie getan.« Doch Kelseys Lippen waren kalt und starr. »Mein Vater hätte so etwas nie getan.«
»So, wie’s aussieht, haben Sie recht. Allerdings landet der Schwarze Peter dann wieder bei Ihrer Mutter.«
»Es muß eine andere Antwort geben.« Kelsey drehte sich um. »Ich weiß, daß es eine andere Antwort gibt.«
»Sie wollen eine andere Antwort«, sagte Tipton sanft. »Vielleicht werden Sie sie finden. Vielleicht wird sie Ihnen nicht gefallen.« Seufzend nahm er ihr den zerdrückten Becher aus der Hand. »Ich habe nur ein einziges Bindeglied zwischen Philip Byden und den Ereignissen auf Three Willows in jener Nacht gefunden. Charles Rooney.«
26
Es bestand kein Zweifel, irgend etwas stimmte nicht. Nach Einbruch der Dunkelheit war sie zu ihm gekommen und hatte nur gesagt, sie wolle bei ihm sein. Gabe wünschte, er könnte glauben, daß es so einfach war, daß es der Wahrheit entsprach.
Doch in ihren Augen lag ein abwesender Ausdruck, ihr Lächeln wirkte künstlich, und ihr Verlangen, das ihn stets von neuem entzückte, war zu heftig. Unter ihrer hingebungsvollen Leidenschaft lauerte Verzweiflung.
Als ob sie sich von irgend etwas befreien wollte, dachte Gabe, als Kelsey still neben ihm lag. Sein Körper hatte auf sie reagiert wie sonst, doch nun, als sich Schweigen zwischen ihnen ausbreitete, schien ihm, daß sie beide nicht befriedigt waren.
»Bist du jetzt bereit?« fragte er.
Kelsey drehte den Kopf, um auf dem warmen Laken nach einer kühleren Stelle zu suchen. »Bereit?«
»Mir zu erzählen, was dich belastet.«
»Was sollte mich denn belasten?« Ihre Stimme klang tonlos und erschöpft.
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