Schatten über den Weiden: Roman (German Edition)
»Vor ein paar Tagen hat sich ein Mann, den ich kannte und gern hatte, umgebracht.«
»Hier geht es nicht um Reno, sondern um dich.«
Sie rollte sich auf den Rücken und starrte in den dunklen Himmel. Der Mond war heute nacht nicht zu ssehen, er war hinter Wolken verschwunden. Um viel zu verbergen, bedurfte es manchmal nur sehr wenig.
»Er hat seinen Vater geliebt«, begann sie. »Er hat ihn nicht einmal gekannt, aber er liebte ihn. Glaubte an ihn. Alles, was Reno tat, ist auf diese Liebe, diesen Glauben zurückzuführen. Blinde, kompromißlosse Lieebe, unerschütterlicher Glaube.« Sie seufzte tief. »Und als er erkannte, daß er seine Gefühle an die falsche Person verschwendet hatte, daß zumindest der Glaube nicht gerechtfertigt
war, da konnte er mit dieser Erkenntnis nicht mehr weiterleben.«
Unruhig wälzte sie sich herum, das Rascheln der Laken an ihrer Haut klang in der Dunkelheit wie geheimnisvolles Flüstern.
»Es wäre besser gewesen, er hätte die Ereignisse, die so viele Jahre zurücklagen, ruhen lassen, nicht wahr? Was kann man schon beweisen, Gabe? Was kann man schon ändern, wenn man auch noch so beharrlich in der Vergangenheit wühlt?«
»Das hängt davon ab, wie dringend man Gewißheit haben muß. Und davon, was man herausfindet.« Er streichelte mit einer Hand ihr Haar, ließ die blonde Fülle durch seine Finger gleiten. »Es geht um dich, Kelsey, oder? Um dich und Naomi.«
»Sie hat mit der Vergangenheit abgeschlossen. Warum kann ich das nicht auch? Niemand hat die Macht, die Uhr zurückzudrehen und ihr all die verlorenen Jahre wiederzugeben. Verlorene Jahre für uns beide. Sie hat Alec Bradley umgebracht. Ich sollte das als gegeben hinnehmen und nicht so verzweifelt nach dem wahren Grund für diese Tat suchen.«
Kelsey setzte sich auf, zog die Knie an und schlang die Arme darum; eine Geste, die sie dermaßen schutzbedürftig erscheinen ließ, daß es Gabe einen Stich ins Herz versetzte.
»Dann laß die Dinge ruhen.«
»Die Dinge ruhen lassen«, wiederholte sie. »Das wäre das Vernünftigste. Schließlich hat sie für ihre Fehler teuer bezahlt. Damals kannte ich sie noch nicht oder konnte mich zumindest nicht an sie erinnern. Was denke ich eigentlich, wer ich bin, daß ich im nachhinein eine entscheidende Wende herbeiführen könnte? Sie ist glücklich. Mein Vater ist glücklich. Keiner von beiden würde es mir danken, wenn ich alte Wunden aufreiße. Mein lächerliches Bedürfnis nach Wahrheit und Gerechtigkeit gibt mir noch lange nicht das Recht dazu.«
Mit fest zusammengekniffenen Lippen preßte sie ihr
Gesicht gegen die Knie. »Und manchmal sind Wahrheit und Gerechtigkeit nicht dasselbe, oder?«
»Doch, das sollten sie sein. Eine deiner bemerkenswertesten Eigenschaften ist, daß du beides vereinen möchtest.« Er strich mit der Hand über ihre Schultern, fühlte die verspannten Muskeln und begann, sie zu massieren. »Wie bist du überhaupt auf diese Gedanken gekommen, Kelsey?«
Um sich zu beruhigen holte Kelsey tief Atem und erzählte ihm von ihrem Besuch bei Tipton. Er hörte ihr zu, ohne sie zu unterbrechen, und unterdrückte den Ärger darüber, daß sie ohne ihn zum Captain gegangen war.
»Und jetzt machst du dir Sorgen, daß dein Vater irgendwie in die Sache verwickelt sein könnte.«
»Unmöglich!« Ihr Kopf fuhr hoch. In ihren Augen glomm ein rebellischer Funke – und die Bitte um Verständnis. »Er kann nichts damit zu tun haben, Gabe. Du kennst ihn nicht.«
»Nein, ich kenne ihn nicht.« Verstimmt über sich selbst, wandte Gabe sich ab und griff nach einer Zigarre, die auf dem Nachttisch lag. »Da haben wir doch glatt vergessen, ihm einen Höflichkeitsbesuch abzustatten.«
Gequält fuhr Kelsey sich mit der Hand durchs Haar. Irgendwie mußte sie ihn verletzt haben. »Alles ging doch so schnell. Unsere Beziehung hat sich sozusagen im Eiltempo entwickelt. Und die Situation, ich meine meine familiäre Situation, steht zur Zeit unter einem schlechten Stern. Denk bitte nicht, daß ich dich von meinem Vater fernhalten will.«
»Vergiß es.« Er ließ sein Feuerzeug klicken und starrte grollend in die Flamme. »Vergiß es«, sagte er, diesmal schon ruhiger. »Darauf kommt es jetzt gar nicht an. Und das ist es auch nicht, was mich ärgert. Ich hätte dich zu Tipton begleitet. Ich hätte bei dir sein sollen.«
»Es war eine ganz impulsive Handlung.« Aber das war nur die halbe Wahrheit, gestand sich Kelsey ein. »Aber vielleicht wollte ich auch allein gehen, mußte sogar
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