Schatten über den Weiden: Roman (German Edition)
Tochter. Alles vergeben und vergessen. Ich verlange ja gar nicht, daß alles vergeben und vergessen sein soll, Kelsey. Ich hoffe nur, daß du mir eine Chance gibst.«
Kelsey nahm den Schnellhefter, den sie neben sich auf das Sofa gelegt hatte. »Ich habe einige Nachforschungen angestellt.«
Das muß die Hölle gewesen sein, dachte Naomi und griff nach einem weiteren Plätzchen. »Das habe ich mir schon gedacht. Zeitungsberichte über den Prozeß?«
»Unter anderem.«
»Ich kann dir eine Abschrift des Protokolls besorgen.«
Kelseys Finger schlossen sich um den Schnellhefter. »Ein Protokoll?«
»Wäre ich an deiner Stelle, wollte ich es sehen. Die Verhandlung war öffentlich, Kelsey. Selbst wenn ich etwas geheimhalten wollte, wäre es mir nicht möglich.«
»Als ich das letzte Mal hier war, fragte ich dich, ob du schuldig bist, und du sagtest ja.«
»Du fragtest, ob ich Alec getötet habe, und ich bejahte das.«
»Warum hast du mir nicht gesagt, daß du in Notwehr gehandelt hast?«
»Was macht das für einen Unterschied? Ich wurde verurteilt, habe meine Strafe abgesessen und bin, wie man so schön sagt, rehabilitiert.«
»Also war es eine Lüge? War es nur eine Ausrede, als du ausgesagt hast, daß du ihn erschießen mußtest, weil er dich vergewaltigen wollte?«
»Die Geschworenen waren dieser Ansicht.«
»Ich frage aber dich «, schoß Kelsey zurück. »Ich will ein einfaches Ja oder Nein.«
»Jemanden zu töten ist niemals einfach, egal unter welchen Umständen.«
»Und welche Umstände waren das? Du hast ihn ins Haus, in dein Schlafzimmer gelassen.«
»Ich ließ ihn ins Haus«, berichtigte Naomi. »Er kam in mein Schlafzimmer.«
»Er war dein Liebhaber.«
»Das war er nicht.« Mit eiskalten Händen schenkte Naomi Tee nach. »Vielleicht wäre er es irgendwann einmal geworden, aber damals habe ich nicht mit ihm geschlafen.« Ihr Blick heftete sich auf ihre Tochter. »Auch das haben die Geschworenen nicht geglaubt. Ich fand ihn anziehend und hielt ihn für einen charmanten, harmlosen Dummkopf.«
»Du hast dich wegen einer anderen Frau mit ihm gestritten.«
»Ich bin sehr besitzergreifend«, entgegnete Naomi nüchtern. »Er sollte bis über beide Ohren in mich verliebt sein, und das hieß, daß ich mit anderen flirten durfte, er aber nicht. Und da er begann, mich zu langweilen und mir lästig zu werden, beschloß ich, die Beziehung zu beenden. Alec war damit keineswegs einverstanden. Wir hatten einen Streit, in aller Öffentlichkeit, Später, als wir allein waren, stritten wir weiter. Er gebärdete sich wie rasend, beschimpfte mich auf übelste Weise und versuchte dann, durch Grobheit sein Ziel zu erreichen. Ich sagte, er solle verschwinden.«
Trotz aller Bemühungen, die Ruhe zu bewahren, zitterte ihre Stimme, als sie an diese Nacht zurückdachte. »Statt dessen folgte er mir nach oben, nannte mich Gott weiß was und wurde gewalttätig. Vermutlich wollte er mir zeigen, was ich verpaßt hatte, als er mich mit Gewalt ins Bett zerren wollte. Ich war wütend und hatte Angst. Als mir klar wurde, daß er genau das tun würde, was er mir angedroht hatte, wehrte ich mich, riß mich los, griff nach meiner Pistole und erschoß ihn.«
Wortlos schlug Kelsey den Schnellhefter auf und nahm die Kopie des Zeitungsfotos heraus. Als Naomi es sah, verriet nur ein Zucken im Mundwinkel ihre Gefühle.
»Nicht sehr schmeichelhaft, weder für ihn noch für mich, nicht wahr? Allerdings wußten wir damals nicht, daß wir Zuschauer haben.«
»Er berührt dich gar nicht. Er hat die Hände erhoben.«
»Vermutlich hätte man selbst an Ort und Stelle sein müssen, um die Situation richtig beurteilen zu können.« Naomi reichte ihrer Tochter das Foto zurück. »Ich verlange ja nicht, daß du mir glaubst, Kelsey. Warum solltest du auch? Wie auch immer die Umstände gewesen sein mochten, ich bin nicht ohne Schuld. Doch ich habe dafür bezahlt, und die Gesellschaft hat mir noch eine Chance gegeben. Und mehr verlange ich auch nicht von dir.«
»Warum hast du mich in dem Glauben gelassen, du seist tot? Warum hast du das zugelassen?«
»Weil es in gewisser Weise zutraf. Ein Teil von mir war tot. Und egal welches Verbrechen ich auch begangen habe, dich habe ich geliebt. Ich wollte nicht, daß du in dem Wissen aufwächst, daß ich in einem Käfig sitze. Ansonsten hätte ich diese zehn Jahre nicht überstanden. Und ich mußte überleben.«
Dutzende von Fragen schwirrten Kelsey im Kopf umher, doch sie wußte nicht, ob sie die
Weitere Kostenlose Bücher