Schatten über den Weiden: Roman (German Edition)
sofort.« Vor Freude summend, goß Gertie Tee ein und ordnete die Plätzchen auf einer Platte. »Ich wußte, daß Sie zurückkommen. Immer hab’ ich’s gewußt. Miß Naomi, die glaubte nicht daran, zermürbte sich immer mehr. Aber ich hab’ zu ihr gesagt: ›Sie ist Ihre Tochter,
und sie kommt zurück zu ihrer Mama.‹ Und recht hatte ich! Jetzt sind Sie hier.«
»Ja.« Kelsey zwang sich, sich hinzusetzen und eine Tasse Tee zu nehmen – »jetzt bin ich hier.«
»Und so erwachsen!« Unfähig, sich zurückzuhalten, strich Gertie kurz über Kelseys Haar, »Sie sind eine erwachsene Frau.« Sie schien den Tränen nahe. Schnell ließ sie wieder die Hand fallen, wandte sich rasch ab und eilte aus dem Zimmer.
»Entschuldige bitte«, sagte Naomi, die nur kurz danach hereinkam. »Gertie reagiert sehr emotional. Es muß peinlich für dich sein.«
»Schon gut.« Kelsey nippte an ihrem Tee. Assam diesmal, konstatierte sie, leicht lächelnd. Naomi mußte lachen.
»Das ist mein hintergründiger Sinn für Humor.« Sie schenkte sich selbst ein und nahm Platz. »Ich war mir nicht sicher, ob du wiederkommst.«
»Ich mir auch nicht. Vielleicht wäre ich nicht gekommen, zumindest nicht so schnell, wenn Großmutter es mir nicht strikt verboten hätte.«
»Ach ja, Milicent.« Bemüht, sich zu entspannen, streckte Naomi ihre langen Beine aus. »Sie hat mich von Anfang an verabscheut. Nun ja«, fügte sie achselzuckend hinzu, »das beruhte auf Gegenseitigkeit. Sag mir, hast du es geschafft, ihren hohen Ansprüchen zu genügen?«
»Nicht ganz.« Kelsey lächelte unsicher. Es erschien ihr nicht richtig, an diesem Ort über ihre Großmutter zu sprechen.
»Familienehre«, nickte Naomi verständnisvoll. »Du hast vollkommen recht. Ich sollte dich nicht zu indirekter Kritik an Milicent bewegen. Außerdem sollte nicht ich es sein, die hier die Fragen stellt.«
»Wie kannst du dich bloß so gelassen geben?« Kelsey setzte ihre Tasse mit einem vernehmlichen Klirren ab. »Wie kannst du bloß so ruhig dasitzen?«
»Ich habe im Gefängnis vieles gelernt, unter anderem, das Leben so zu nehmen, wie es kommt. Jetzt bist du am Zuge, Kelsey. Ich hatte viel Zeit, über alles nachzudenken,
und bevor ich mich mit dir in Verbindung setzte, hatte ich mir geschworen, alles zu akzeptieren, was auch geschehen mag.«
»Warum hast du so lange gewartet? Du bist doch schon vor einiger Zeit aus dem Gefängnis entlassen worden.«
»Vor zwölf Jahren, acht Monaten und zehn Tagen. Ehemalige Häftlinge sind da noch genauer als ehemalige Raucher, und ich bin beides.« Wieder lächelte sie. »Doch das ist keine Antwort auf deine Frage. Schon am Tag meiner Entlassung dachte ich daran, mich bei dir zu melden. Ich bin sogar zu deiner Schule gefahren. Eine Woche lang saß ich jeden Tag im Auto und beobachtete dich von dort auf dem Schulhof. Sah, wie du mit den anderen Kindern spieltest. Einmal bin ich sogar ausgestiegen und wollte über die Straße gehen. Und da habe ich mich gefragt, ob man mir wohl anmerkt, daß ich aus dem Gefängnis komme. Ich dachte, jeder müsse es sehen, so, als trüge ich ein Kainsmal auf der Stirn.«
Naomi hob die Schultern und nahm sich ein Plätzchen. »Also stieg ich wieder in mein Auto und fuhr davon. Du warst glücklich, du wurdest behütet, und du hattest keine Ahnung, daß es mich gibt. Dann wurde mein Vater krank. Die Jahre vergingen, Kelsey. Jedesmal, wenn ich daran dachte, zum Telefon zu greifen oder dir zu schreiben, schien es mir der falsche Zeitpunkt zu sein.«
»Und warum gerade jetzt?«
»Ich hielt die Zeit für gekommen. Jetzt bist du nicht so glücklich, nicht so behütet, und ich dachte, es sei an der Zeit, daß du von meiner Existenz erfährst. Deine Ehe ist gescheitert, und du stehst an einem Scheideweg. Vielleicht denkst du, ich kann nicht nachempfinden, wie du dich fühlst, aber glaub mir, ich kann es.«
»Du weißt über Wade Bescheid?«
»Ja. Und über deinen Job und dein Studium. Du hattest Glück, daß du die Intelligenz deines Vaters geerbt hast. Ich war immer eine miserable Studentin. Wenn du die Plätzchen nicht ißt, steck wenigstens ein paar ein, ja? Gertie merkt es bestimmt nicht.«
Seufzend nahm sich Kelsey eines und biß hinein. »Ich weiß nicht, was ich von all dem halten soll. Und ich weiß nicht, was ich von dir halten soll.«
»Die Realität ist selten so, wie es einem die Seifenopern im Fernsehen weismachen wollen«, meinte Naomi lakonisch. »Tränenreiche Wiedervereinigung von Mutter und
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