Schatten über den Weiden: Roman (German Edition)
durch eine geräumige Diele,
die mit einem rosengemusterten Teppich ausgelegt war. »Manchmal hat sie Leute da, aber es ist nicht mehr so wie früher. Damals hatten wir ständig Gäste.«
Sie öffnete eine Tür, trat ins Zimmer und legte den Koffer auf ein elegantes Himmelbett.
Durch die hohen, schmalen Fenster, die zum Garten hinausgingen, fiel helles Sonnenlicht in das Zimmer. Die kräftigen Farben und die geschmackvoll arrangierten Blumen verliehen dem Raum eine elegante, beinahe europäische Note.
»Wie hübsch!« Kelsey trat zu einer Frisierkommode aus Kirschholz, auf der eine Kristallvase mit frischen Tulpen stand. »Als ob man in einem Garten schliefe.«
»Früher war das Ihr Zimmer. ’türlich anders eingerichtet, ganz in Weiß und Rosa. – wie ein Bonbonladen.« Gertie biß sich auf die Lippen, als sie Kelseys überraschten Blick auffing. »Miß Naomi sagte, wenn Ihnen das Zimmer nicht gefällt, können Sie auch den Raum gegenüber nehmen.«
»Nein, es gefällt mir gut.« Kelsey verharrte einen Augenblick, wartete darauf, jeden Moment von Erinnerungen überflutet zu werden. Doch sie empfand lediglich Neugier.
»Ihr Badezimmer ist hier.« Dienstbeflissen öffnete Gertie eine Tür. »Wenn Sie noch Handtücher brauchen, sagen Sie’s nur. Oder wenn Sie sonst noch etwas wünschen. Ich gehe und hole Miß Naomi.«
»Nein.« Kurz entschlossen drehte Kelsey sich um. »Ich gehe sie selbst suchen. Auspacken kann ich ja später.«
»Ich mach’ das schon für Sie. Sie sehen sich um und genießen Ihren Besuch. Bald gibt’s Lunch. Knöpfen Sie Ihre Jacke zu, es ist kühl draußen.«
Kelsey verkniff sich ein Grinsen. »Okay. Zum Lunch bin ich wieder da.«
»Bringen Sie Ihre Mama mit. Sie muß etwas essen.«
»Ich werd’s ihr ausrichten«, sagte Kelsey und ließ Gertie mit dem Koffer allein.
Die Verlockung, sich das Haus genauer anzusehen, den
Kopf in jeden Raum zu stecken und den letzten Winkel zu erforschen, war groß. Doch das hatte Zeit. Ein Hauch von Winter lag zwar noch in der Luft, doch schien die Sonne strahlend hell vom Himmel. Ein gutes Omen, hoffte Kelsey, als sie das Haus verließ.
Sie wollte nicht gleich zu Beginn ihres Besuches den Schatten der Vergangenheit nachjagen. Auf lange Sicht war das natürlich unvermeidlich. Doch es konnte nicht schaden, einen unbeschwerten Tag auf dem Lande zu verbringen, den Duft der ersten Frühlingsblumen und des jungen Grases zu genießen und die Berge, Pferde und den blauen Himmel zu bewundern. Zumindest vorerst konnte sie ihren Aufenthalt hier als Kurzurlaub betrachten. Erst als sie ihren Koffer gepackt hatte, war ihr bewußt geworden, wie dringend sie es nötig hatte, dem Alltagstrott zu entfliehen. Bloß weg aus ihrem leeren Apartment, weg von dem Job und der nervenzermürbenden Aufgabe, sich an das Singleleben zu gewöhnen.
Außerdem, dachte sie, als ihr der Geruch nach Pferden in die Nase stieg, konnte sie auch hier noch etwas lernen. Sie verstand überhaupt nichts vom Pferderennsport, kannte sich in dieser Welt überhaupt nicht aus und hatte nur wenig Ahnung von Pferden.
Also würde sie sich jetzt bemühen, soviel wie möglich darüber herauszufinden. Sie hatte das Gefühl, daß der Schlüssel zum Wesen ihrer Mutter in dem Umfeld lag, in dem sie lebte.
Wie schon bei ihrem letzten Besuch herrschte bei den Ställen reges Treiben. Pferde wurden herumgeführt oder gestriegelt, Männer wie Frauen schleppten Futtersäcke heran oder schoben Schubkarren mit Mist fort. Kelsey ignorierte die neugierigen Blicke und ging hinein.
In der ersten Box bandagierte ein Pfleger einer Stute das Bein. Kelsey zögerte, als er zu ihr aufschaute. Unter seinen Augen lagen tiefe Schatten. Sein Gesicht erschien ihr steinalt und seine Haut erinnerte an von der Sonne ausgedörrtes Leder.
»Entschuldigung. Ich suche Miß Chadwick.«
»Groß geworden, nich’ wahr?« Der Mann schob einen Priem Kautabak in den Mund. »Hab’ schon gehört, daß Sie kommen. So, Süße, das wär’s.«
Kelsey brauchte einen Moment, um zu begreifen, daß diese Bemerkung nicht ihr, sondern der Stute galt. »Fehlt ihr etwas?« wollte sie wissen.
»Nur’ne leichte Verstauchung. Alt ist sie, aber das Rennen hat sie noch nicht verlernt. Du erinnerst dich noch an die alten Zeiten, was, mein Mädchen? Hat ihr erstes und ihr letztes Rennen gewonnen, und’ne ganze Reihe dazwischen. Fünfundzwanzig ist sie jetzt. War’n munteres Fohlen, als Sie sie das letzte Mal gesehen haben.« Er schenkte ihr ein
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