Schatten über den Weiden: Roman (German Edition)
Antworten ertragen konnte. »Ich kenne dich nicht«, sagte sie schließlich. »Ich weiß nicht, ob ich jemals etwas für dich empfinden werde.«
»Dein Vater hat dir doch sicher Sinn für Gerechtigkeit beigebracht. Und wenn nicht er, dann Milicent. Ich will an diesen Gerechtigkeitssinn appellieren und dich bitten, hierherzukommen und ein paar Wochen zu bleiben. Einen Monat vielleicht.«
Für einen Augenblick verschlug es Kelsey die Sprache. »Ich soll hier leben?« stieß sie schließlich hervor.
»Nennen wir es einen ausgedehnten Besuch, Kelsey. Ein paar Wochen deines Lebens gegen die Zeit, die ich verloren habe.«
Sie wollte nicht betteln. O Gott, sie wollte nicht betteln, doch sie würde es tun, wenn es sein mußte. »Es mag ja egoistisch und unfair sein, aber ich will diese Chance.«
»Das ist zu viel verlangt.«
»Das ist es wohl. Aber ich verlange es trotzdem. Ich bin deine Mutter, das kannst du nicht leugnen. Du kannst mir zwar aus dem Weg gehen, wenn du das willst, aber ich bin und bleibe deine Mutter. Wir werden in Ruhe herausfinden können, wie wir zueinander stehen. Wenn sich gar kein Gefühl zwischen uns entwickelt, kannst du gehen. Aber ich wette, du bleibst.« Naomi beugte sich vor. »Aus welchem Holz bist du geschnitzt, Kelsey? Hast du genug Chadwick-Blut in den Adern, um eine Herausforderung anzunehmen?«
Kelsey rieb sich ihr Kinn. Es war eine Herausforderung, aber darauf war sie eher bereit einzugehen als auf eine Bitte. »Einen ganzen Monat kann ich dir nicht versprechen, aber ich werde kommen.« Überrascht bemerkte sie, daß Naomis Lippen leicht zitterten, ehe sie sich zu ihrem üblichen kühlen Lächeln verzogen.
»Ausgezeichnet. Wenn ich dich schon nicht unterhalten kann, Three Willows kann’s bestimmt. Dann werden wir sehen, wieviel du in deinen Reitstunden gelernt hast.«
»Ich lasse mich nicht leicht abwerfen.«
»Ich auch nicht.«
4
Das Dinner im Familienkreis war von jeher eine äußerst zivilisierte Angelegenheit. Stilvoll wurde dabei ausgezeichnetes Essen serviert – wie eine Henkersmahlzeit, dachte Kelsey, als sie ihre Lauchsuppe löffelte. Sie wollte den Abend im Hause ihre Vaters weder als Verpflichtung noch, was schlimmer war, als Verhör betrachten. Doch sie wußte, daß beides zutraf.
Philip betrieb beiläufig Konversation, doch sein Lächeln wirkte aufgesetzt. Seit Kelsey ihm von ihrem bevorstehenden Besuch auf Three Willows erzählt hatte, ließ ihn die Vergangenheit nicht mehr los. Obwohl er es Candace gegenüber als illoyal empfand, konnte er kaum an etwas anderes denken als an seine erste Frau. Nachts wälzte er sich schlaflos von einer Seite auf die andere, da ihn seine Erinnerungen peinigten. Obwohl er sich selbst sagte, daß er sich wie ein Narr verhielt, quälte ihn der Gedanke, er könne das Kind verlieren, um das er so erbittert gekämpft hatte.
Doch dieses Kind war inzwischen zur Frau gereift. Er brauchte sie nur anzusehen, um sich dessen bewußt zu werden. Und doch, wenn er die Augen schloß, sah er das Kind vor sich. Und fühlte sich schuldig.
Milicent wartete, bis das gegrillte Hähnchen serviert wurde. Normalerweise vermied sie es, während der Mahlzeit unerfreuliche Themen anzuschneiden, doch diesmal würde ihr wohl keine andere Wahl bleiben.
»Du fährst morgen fort, wie ich hörte?«
»Ja.« Kelsey nahm einen Schluck aus ihrem Wasserglas und sah zu, wie die dünne Zitronenscheibe darin auf und ab tanzte. »Gleich morgen früh.«
»Und dein Job?«
»Ich habe gekündigt.« Herausfordernd hob Kelsey eine Augenbraue. »Es war sowieso nicht viel mehr als eine ehrenamtliche
Tätigkeit. Wenn ich zurückkomme, kann ich mich ja immer noch bei der Smithsonian Institution bewerben.«
»Für jemanden, der kommt und geht, wie es ihm beliebt, dürfte es schwierig sein, eine Stelle zu finden.«
»Mag sein.«
»Die Gesellschaft für Geschichte kann immer Hilfe gebrauchen«, warf Candace ein. »Vielleicht kann ich ein gutes Wort für dich einlegen.«
»Danke, Candace.« Der reinste Friedensengel, dachte Kelsey. »Ich werde es mir überlegen.«
»Vielleicht befällt dich ja auch das Rennfieber.« Channing zwinkerte seiner Stiefschwester zu. »Dann legst du dir einen feurigen Hengst zu und reist von Rennen zu Rennen.«
»Das wäre sowohl unpassend als auch unklug.« Milicent betupfte die Lippen mit ihrer Serviette. »Für jemanden deines Alters mag das ja romantisch und aufregend klingen, aber Kelsey ist alt genug, um es besser zu wissen.«
»Ich stell
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