Schatten über den Weiden: Roman (German Edition)
Naomi dünn. »Das ist nur zu verständlich. Aber du hattest trotzdem Reitstunden?«
»Ja, ich habe sie ihm abgebettelt.« Kelsey blieb stehen und sah ihrer Mutter direkt in die Augen. Ihr fielen nun die ersten leichten Anzeichen des Alterns auf, die sie bei ihrem ersten Treffen vor lauter Nervosität nicht bemerkt hatte. Feine Linien umgaben die Augen, andere, Sorgenfalten vielleicht, zeigten sich auf der hohen Stirn. »Es muß schwer für ihn gewesen sein, mich Tag für Tag zu sehen«, sagte Kelsey.
»Das glaube ich nicht. Was auch immer Philip von mir hielt, dich hat er vergöttert.« Naomi wandte den Blick ab. Es war leichter, auf die Berge zu schauen. Ein helles, freudiges Wiehern ertönte, für Naomi der schönste Ton der Welt. »Ich habe dich noch gar nicht nach ihm gefragt. Wie geht es ihm?«
»Es geht ihm gut. Er ist jetzt Dekan der Englischen Fakultät an der Universität von Georgetown. Seit sieben Jahren schon.«
»Er hat einen glänzenden Kopf. Außerdem ist er ein guter Mann.«
»Aber nicht gut genug für dich.«
Naomi hob eine Augenbraue. »Liebe Kelsey, ich war nie gut genug für ihn. Da kannst du fragen, wen du willst.« Sie warf ihr Haar zurück und ging weiter. »Wie ich höre, hat er wieder geheiratet.«
»Ja, als ich achtzehn war. Sie sind sehr glücklich miteinander. Ich habe auch noch einen Stiefbruder, er heißt Channing.«
»Und du magst deine Familie?«
»Sehr.«
Wie bei ihrem ersten Besuch öffnete Naomi ihr die Terrassentür. »Was kann ich dir anbieten? Kaffee, Tee? Oder vielleicht ein Glas Wein?«
»Danke, das ist nicht nötig.«
»Ich hoffe, du machst Gertie die Freude. Als sie hörte, daß du kommst, hat sie bergeweise Plätzchen gebacken. Ich weiß, daß du dich nicht mehr an sie erinnerst, aber du hast ihr viel bedeutet.«
Gefangen in der Falle aus Höflichkeit und Mitgefühl, sagte Kelsey: »Also gut, dann Tee und Plätzchen, bitte.«
»Ich werde es ihr sagen. Setz dich doch.«
Kelsey blieb stehen. Sie hielt es für gerechtfertigt, sich die Umgebung, in der ihre Mutter lebte, genauer anzusehen. Auf den ersten Blick wirkte der, Raum unauffällig elegant. Ein kleines Feuer im Kamin brannte, und die rosafarbenen Vorgänge waren zurückgezogen, um die Sonne ins Zimmer zu lassen. Ihre Strahlen fielen auf ein gutes Dutzend wunderschöner Kristallpferde, die wie Edelsteine im hellen Licht funkelten. Auf dem glänzenden Parkettboden lag ein farblich auf die Vorhänge und das cremefarbene Sofa abgestimmter orientalischer Läufer.
Nichts wirkte protzig oder übertrieben. Die Wände waren mit Waschseide bespannt, die im selben Elfenbeinton wie die Polstermöbel schimmerte. Doch die riesigen abstrakten Gemälde an der Wand, in leuchtenden Farben gehalten, schienen vor Kelseys Augen förmlich zu explodieren. Es waren kraftvolle, von Leidenschaft und Zorn bestimmte Arbeiten, und ein Zucken ging durch ihren
Körper, als sie bemerkte, daß alle Gemälde mit einem blutroten N. C. signiert waren.
Naomis Werke? Niemand hatte je erwähnt daß ihre Mutter malte. Und diese Bilder stammten beileibe nicht von einem Stümper, sondern von jemandem, der über großes Talent verfügte.
In diese Umgebung hätten die Gemälde eigentlich einen Mißton bringen müssen. Statt dessen belebten sie den Raum.
Kelsey entdeckte noch weitere Objekte in diesem Zimmer. Eine Frauenstatue, deren alabasterfarbenes Gesicht unvorstellbaren Schmerz ausdrückte, ein blaßgrünes Glasherz mit einem gezackten Sprung in der Mitte, ein kleines, mit bunten Steinen gefülltes Glas.
»Die haben Ihnen gehört.«
Schuldbewußt ließ Kelsey einen Stein ins Glas zurückfallen und drehte sich um. Gertie hatte den Teewagen hereingeschoben und blieb neben ihr stehen. »Wie bitte?«
»Sie haben schon immer gern schöne Steine gesammelt. Ich habe sie für Sie aufgehoben, als Sie . . .« Ihre Stimme schwankte. »Als Sie fortgingen.«
»Oh.« Was sollte sie darauf sagen? »Dann arbeitest du schon lange hier?«
»Ich kam schon als junges Mädchen nach Three Willows. Meine Mutter hat für Mr. Chadwick den Haushalt geführt, und als sie sich zur Ruhe setzte, habe ich ihren Platz eingenommen. Hier sind Schokoladenplätzchen, die mochten Sie immer am liebsten.«
Die Frau verschlang Kelsey nahezu mit den Blicken, und die Freude, die in ihren Augen leuchtete, war Kelsey fast unangenehm. »Ich esse sie auch heute noch gerne«, brachte sie mühsam hervor.
»Setzen Sie sich und greifen Sie zu. Miß Naomi telefoniert, aber sie kommt
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