Schatten über Oxford
Menschen den Tod als Vorgang beschrieben – nicht als Ereignis. Bei Alan Barnes war dieser Vorgang bereits weit fortgeschritten.
»Ich wohne zusammen mit George Dolby in Oxford in der Cavendish Road«, begann Kate. »Ich weiß, dass das Haus bis etwa 1960, als eine neue Nummerierung stattfand, High Corner hieß und die Adresse Armitage Road lautete. Ihr Neffe Christopher und Ihre Nichte Susan wurden 1944 nach Oxford evakuiert und bei Elinor Marlyn einquartiert, der das Haus damals gehörte.
Sie waren zwar nicht besonders glücklich, aber alles lief ganz gut, bis Christopher den Verdacht schöpfte, dass Miss Marlyn in gewisse kriminelle Machenschaften verwickelt war. Ich nehme an, es ging um Schwarzmarkt und vielleicht auch um Spionage. Ich weiß nicht, ob dieser Verdacht nur seiner Einbildung entsprang oder auf Fakten gegründet war.« Kate unterbrach sich und blickte Alan an. »Glauben Sie, dass sie eine Spionin war?«
»Nein.«
»Das dachte ich mir.«
»Fahren Sie mit Ihrer Zusammenfassung fort.«
»Im Februar 1945 wurde Christopher von einem Lieferwagen angefahren und getötet. Der Fahrer war Danny Watts, ein Bekannter von Miss Marlyn.«
»Ein kleiner Schieber, der viel mit dem Schwarzmarkt zu tun hatte.«
»Das habe ich auch gehört. Ende November 1945 starb Miss Marlyn bei einem Unfall, der auch ein Selbstmord hätte sein können, obwohl nie etwas Derartiges bewiesen wurde. Danny Watts fiel betrunken vom Fahrrad und ertrank im Fluss.«
»Nicht schlecht«, lobte Alan Barnes. »Die Sache mit Danny Watts wusste ich nicht. Wann war das?«
»Ganz genau weiß ich es nicht, aber nicht lange nach Elinor Marlyns Tod. Wahrscheinlich noch im selben Winter.«
»Ich habe ihn nur einmal flüchtig gesehen, aber er war mir ziemlich unsympathisch. Trotzdem hatte er es nicht verdient zu sterben.«
»Im Gegensatz zu Elinor Marlyn?«
»Das müssen Sie selbst beurteilen.«
»Wir haben vor einiger Zeit das Haus entrümpelt. Dabei habe ich ein paar Dinge gefunden, die Chris gehörten. Ich habe sie mitgebracht. Vielleicht möchten Sie sie gern sehen.«
»Wenn Sie ›wir‹ sagen – bedeutet das, dass der jetzige Eigentümer von High Corner ein Freund von Ihnen ist?«
»Wir leben zusammen.«
»Dann ist er also ein Marlyn?«
»Nein, sein Name ist Dolby. Wenn ich es richtig verstanden habe, hat Elinors Schwester, Sarah Marlyn, Georges Großvater Robert Dolby geheiratet. Elinor vererbte das Haus an ihre Nichte Sadie Dolby, die es wiederum ihrem Neffen George hinterlassen hat.«
»Die Marlyns haben immer schon an feste Familienbande geglaubt.«
»Das habe ich inzwischen auch festgestellt.«
»Und Sie leben mit diesem George zusammen?«
»Richtig.«
Einen Moment lang saß Alan da, als überlegte er. Kate befürchtete bereits, dass er zu dem Schluss kommen würde, dass sie nicht vertrauenswürdig war.
»Ich will die Wahrheit herausfinden«, sagte sie. »Ich kann einfach nicht mit George zusammenleben und so tun, als wäre nie etwas vorgefallen.«
»Und wenn die Wahrheit ein schlechtes Licht auf seine Familie wirft?«
»Der Möglichkeit muss ich mich stellen. Wenn George nicht akzeptieren kann, dass ich darüber Bescheid weiß, dann werde ich gehen müssen.«
Jetzt hatte sie es ausgesprochen. In diesem kleinen Wohnzimmer in einem Vorort von London hatte sie sich eingestanden, dass George und sie möglicherweise getrennte Wege gehen würden.
Kate reichte Alan die beiden Kästchen mit ihrem traurigen Inhalt – einer Ansammlung von Kinderschätzen.
»Das hier war mein Messer«, sagte Alan. »Ich habe es ihm im Januar 1945 geschenkt.«
Stumm nahm er den Hasen in die Hand, betrachtete ihn und legte ihn zurück in die Keksdose. »Arme kleine Susie.« Mehr sagte er nicht.
»Die Dose enthält außerdem ein Tagebuch und Briefe von seiner Mutter«, erklärte Kate.
»Die werde ich mir später ansehen.« Er nickte. »Aber jetzt möchte ich Ihnen die Vorgeschichte erzählen. Nur so viel, wie Sie brauchen, um das Nötigste zu verstehen. Den Rest können Sie später nachlesen. Ich gebe Ihnen das Zeug mit, das ich aufgeschrieben habe.«
»Danke«, sagte Kate. Endlich! Endlich!
»Dürfte ich Sie vielleicht bitten, uns zunächst eine Tasse Tee zu machen. Sie finden alles in der Küche. Milch ist im Kühlschrank.«
»Chris und Susie waren die Kinder meines Bruders Harry«, erzählte Alan.
»Harry und Sheila haben sehr früh geheiratet. Doch obwohl sie eigentlich beide viel zu jung und fast selbst noch Kinder waren, ging
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