Schatten über Oxford
eine objektive Meinung hören willst: ja! Umso mehr, falls du eine gemeinsame Zukunft mit George planst.«
»Aber er übernimmt die Kontrolle über mein Leben! Nicht indem er sich zum Moralapostel aufspielt oder mich drangsaliert, sondern indem er mich so manipuliert, dass ich tue, was er will. Wenn ich jetzt nachgebe, wird er es wieder machen.«
»Er wird das Gefühl haben, dass es richtig ist.«
»Vielleicht sollte ich es einfach sein lassen.«
»Glaubst du, dass du das kannst?«
Wieder herrschte Schweigen.
»Ich könnte es versuchen.«
»Man würde dir deine Mühe sofort anmerken. Und außerdem …«
»… außerdem konnte ich meine Neugier noch nie länger als ein paar Minuten zügeln. Aber wir reden hier von Jahren, vielleicht sogar Jahrzehnten. Das würde ich nie fertigbringen.«
»Du könntest weitermachen, herausfinden, was passiert ist und dein Wissen dann wieder in der Versenkung verschwinden lassen.«
»Ich könnte mich dir anvertrauen.«
»Ich glaube nicht, dass ich eine zuverlässige Vertraute abgebe.«
»Zwischen mir und George stünde immer dieses Geheimnis, über das ich nicht reden dürfte.«
»Das sprichwörtliche Gespenst im Keller.«
»Zu Anfang wäre es vielleicht nur ein ganz kleines Gespenst, aber es würde wachsen und wachsen, bis es das ganze Haus ausfüllt. Für uns beide wäre dann kein Platz mehr.«
»Könnte es sein, dass jetzt wieder deine Fantasie mit dir durchgeht?«
»Aber so ist es doch nun einmal. Meine Fantasie würde im Verborgenen weiterarbeiten, bis ich in George und seiner Familie nur noch Monster sähe.«
»Wie also lautet deine Entscheidung?«
»Ich weiß es nicht.«
»Oh doch, ich glaube, du weißt es sehr gut.«
»Du hast Recht. Meine Entscheidung ist gefallen, als heute Morgen der Brief von Alan Barnes kam.«
15
»Er schreibt«, begann Kate, »dass er seit fünfundfünfzig Jahren darauf wartet, seine Geschichte zu erzählen, und dass es für ihn eine Erleichterung ist, es endlich tun zu dürfen.
Er hat eine Menge aufgeschrieben, hat aber in den vergangenen Monaten kaum noch damit weitermachen können. Er meint, dass es vielleicht einfacher wäre, wenn er mir alles persönlich erzählen könnte.
Er schreibt, dass er nicht mehr lange zu leben hat.
Er leidet an Leukämie. Keine schnell fortschreitende Art, aber er hat die Krankheit schon eine ganze Weile und vermutet, dass er sich auf der Zielgeraden befindet. Er fragt, ob ich mir vorstellen könnte, ihn zu besuchen, weil er nicht mehr in der Lage ist, selbst zu reisen.
Er will mir auch seine schriftlichen Notizen geben. Er weiß nicht, ob ich viel damit anfangen kann, aber er möchte, dass ich es an mich nehme, weil er meint, dass ich mich ernsthaft für das Schicksal von Chris und Susie interessiere.
Aber West London ist ganz schön weit weg«, schloss sie. In den letzten Tagen war es ihr deutlich besser gegangen, und sie fing an, ihre Ängste vor leeren Plätzen und Menschenmengen abzubauen, ganz zu schweigen von den Ängsten vor geschlossenen Räumen und ein oder zwei bedrohlichen Gestalten.
»Ich fahre dich«, schlug Roz vor.
»Würdest du das tun?«
»Kein Problem.«
»Lieb von dir. Aber ich glaube, besuchen muss ich ihn allein. Zu zweit überfordern wir ihn mit Sicherheit.«
»Sehr verständlich. Ich suche mir ein nettes Café oder noch besser ein Pub, und du rufst mich einfach auf dem Handy an, wenn ich dich abholen soll.«
»Seit wann hast du ein Handy?«
»Seit letzter Woche. Ein wirklich nützliches Gerät, nicht wahr?«
»Solange es nicht ununterbrochen und in jeder Lebenslage an deinem Ohr klebt oder du ständig Leute anrufst und mit den Worten beginnst: ›Ich bin gerade im Bus.‹«
»Da käme ich nicht mal im Traum drauf. Hast du dein Handy auch noch?«
»Ja natürlich.«
»Dann sind wir ja komplett ausgestattet. Wann fahren wir?«
»Ich rufe ihn sofort an.«
»So, wie es sich anhört, fahren wir am besten bald. Bei deinem Glück beißt er ins Gras, ehe wir auf der Autobahn sind.«
»Beschrei es nicht!«
Alan Barnes schlug vor, dass Kate gleich am folgenden Vormittag zu ihm kommen sollte. Am Telefon klang er müde – als hätte er einen langen Kampf ausgefochten und wäre jetzt endlich bereit, aufzugeben und sich vom Schlachtfeld zurückzuziehen.
Halten Sie durch, bis ich da bin, hätte Kate ihn am liebsten gebeten.
»Danke, dass ich kommen darf«, sagte sie stattdessen. »Ich werde etwa gegen halb zehn bei Ihnen sein. Oder ist das zu früh?«
»Ich vergeude meine
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