Schatten über Oxford
man es genau betrachtete.
»Falls aus dem Nebel der Zeit doch noch etwas auftauchen sollte, wäre ich dir dankbar, wenn du es mich wissen lassen könntest.«
Nachdem Roz gegangen war, wählte Kate die Nummer von Estelle. Zugegebenermaßen war deutlich mehr als eine Stunde vergangen, seit ihre Agentin sie aufgefordert hatte, ihr eine Idee für einen neuen Roman zu präsentieren, doch Kate hatte ihre Agentin noch nie allzu ernst genommen.
»Livingstone.« Estelle legte es heute offenbar darauf an, sich knapp zu fassen.
»Ich glaube, ich habe eine Idee«, sagte Kate.
»Und zwar?«
»Eine Geschichte über Kinder im Krieg.«
»Hört sich ziemlich düster an.«
»Kinder, die von ihren Eltern getrennt und auf das erheblich sicherere Land verschickt wurden.«
»Ich hoffe, Sie haben nicht vor, irgendetwas über Kindesmissbrauch zu schreiben. Das hatten wir nämlich im letzten Jahr schon.«
»Ich wollte eher in die Richtung ›geheimnisvoll, vergessen, ausgeblendet‹ gehen.«
»Ist wenigstens eine Liebesgeschichte dabei?«
»Na klar.«
»Hört sich ganz okay an, aber Sie sollten unbedingt darauf achten, möglichst viele aufregende Sexszenen hineinzubringen.«
»Ich schreibe nie unverblümt über Sex«, wandte Kate ein.
»Ich weiß. Und Ihre Fans sind darüber immer wieder enttäuscht«, behauptete Estelle.
»Ach ja?«
»Natürlich!«
»Ich weiß nicht recht …«
»Falls Sie vergessen haben, wie es geht, lesen Sie ein paar Bücher darüber!«
»Ich glaube kaum, dass das nötig ist.«
»Na schön. Nun, ich hoffe, ich habe spätestens in einem halben Jahr den ersten Entwurf vorliegen.«
Estelle legte auf, und Kate atmete vernehmlich aus. Ein halbes Jahr. Sie würde einen Gang zulegen müssen! Und sie hatte Estelle nicht anvertraut, dass sie noch immer große Probleme damit hatte, das Haus zu verlassen. Vielleicht war heute der Tag, an dem sie sich ihren Ängsten stellen musste. Sie war allein im Haus. Niemand würde ihre Fehlschläge beobachten. Kate wusste sehr gut, dass es höchste Zeit wurde, etwas zu unternehmen. Auf keinen Fall wollte sie für immer eine Gefangene in Georges Haus bleiben. Und vor allem wollte sie nicht aufhören, Buchautorin zu sein.
Nach ihrem Ausflug würde sie sich der Keksdose von C. D. B. widmen.
Doch im Augenblick erschien es ihr wichtiger, ihre Ängste zu besiegen.
3
Kate stand vor der Haustür und registrierte mit einem gewissen Entsetzen, dass sie hinter ihr ins Schloss gefallen war. Natürlich hatte sie ihren Schlüssel bei sich. Oder etwa nicht? In einem Anflug von Panik ließ sie ihre Hand in die Tasche gleiten, spürte das kühle Metall und machte sich bewusst, dass sie jederzeit ins Haus zurückkehren konnte. Wenn sie wollte, auch jetzt sofort. George befand sich bei einer geschäftlichen Besprechung im College – niemand würde je erfahren, dass sie gekniffen hatte. Aber nein! Sie würde nicht klein beigeben. Noch nicht!
Kate atmete tief durch, machte einige Schritte vorwärts und blieb wieder stehen. Es klang lächerlich, doch es war das erste Mal seit vielen Wochen, dass sie das Haus ganz allein verließ. Bis jetzt war immer jemand an ihrer Seite gewesen, zunächst als Hilfe, weil sie einen stützenden Arm brauchte, später diskreter im Hintergrund oder weil sich herausstellte, dass man rein zufällig in der gleichen Richtung zu tun hatte, die Kate einschlagen wollte. Auch in ihrem Auto war Kate schon unterwegs gewesen, ringsum hermetisch abgeschlossen gegen andere Leute; bei der Ankunft hatte sie die Strecke vom Wagen zum Haus der besuchten Freundin rekordverdächtig in weniger als zehn Sekunden zurückgelegt. An diesem Morgen jedoch wollte sie auf das Auto verzichten. Der Wagen stand in der Garage neben dem Haus, und Kate hatte sich vorgenommen, eine ganze Woche lang ohne ihn auszukommen. Sie würde zu Fuß gehen. Sie war der langen Genesungszeit müde. Sie war es müde, sich vor allem und jedem zu fürchten. Und sie war wild entschlossen, sich das Stück Leben zurückzuerobern, das Ruths Messer ihr gestohlen hatte.
Kate warf einen Blick nach rechts die Straße hinunter, entdeckte aber nichts als ein paar Kinder, die sich um ein Fahrrad zankten. Irgendwann erschien die Mutter und scheuchte die Kleinen zurück in die Sicherheit eines schönen, großen Gartens. Links stieg eine exklusiv und teuer frisierte junge Frau in Jeans und T-Shirt in ein Allrad-Auto mit derart breiten Reifen, dass sie damit die Alpen hätte überqueren können, ohne eine einzige
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