Schatten über Oxford
konnte, ohne zuerst nach der Meinung ihres Vater oder Ehemannes fragen zu müssen. Zumindest hoffte Kate das für sie. Ein ganzes Leben lang mit dem Namen Thomasine geschlagen zu sein, fand sie schicksalhaft genug für eine Frau.
Kate ging weiter und betrat das Areal, wo die erst kürzlich Verstorbenen unter dunkelgrünen Eiben bestattet lagen. Ganze Generationen brauner Nadeln sorgten dafür, dass die Wege sich teppichweich anfühlten. Doch auch hier schien es so, als ob die Ehefrauen ihre Männer häufig um zwanzig Jahre oder gar mehr überlebt hatten. Vor vielen Grabsteinen standen Vasen voller Blumen, oft aus Plastik, und einige Gräber waren mit Bodendeckern bepflanzt. Vor einem Grabmal aus Granit hatte jemand einen Topf mit einer rosa Geranie aufgestellt. Plötzlich frischte der Wind auf, und Kate sah, wie der Topf umkippte und den Grabhügel hinunterkollerte. Sie ging hin, hob ihn auf und stellte ihn wieder vor Edgar White , verstorben am 15 . April 1998 .
Als sie sich bückte, entdeckte sie eine kleine Grabplatte, die unauffällig im Gras zu ihren Füßen lag.
Christopher Douglas Barnes . Zehn Jahre alt . 1934-1945 .
Kate erschrak.
Ein ganz gewöhnlicher Name, doch sie kannte ihn. Sie hatte ihn erst vor kurzer Zeit durch Zufall auf Georges Dachboden entdeckt. Wie hypnotisiert starrte sie die kleine schwarze Grabplatte mit den einfachen weißen Buchstaben an, die keine weiteren Informationen enthüllte. Ihr fiel auf, dass es in diesem Abschnitt mit den neueren Gräbern mehr Blumen gab als sonst auf dem Friedhof; Christopher Barnes’ Grab allerdings war nicht geschmückt. Ein paar Schritte weiter lag ein altes Kaffeeglas mit einem Rest braunem, abgestandenen Wasser. Vielleicht hatten Blumen für Christopher darin gestanden. Vielleicht auch nicht. Immerhin war er seit mehr als einem halben Jahrhundert tot.
Langsam machte sich Kate auf den Rückweg zum Friedhofstor. Warum war dieser Junge mit gerade erst zehn Jahren gestorben? Steckte vielleicht eine Geschichte dahinter , die sie verwenden konnte? Ein ziviles Kriegsopfer vielleicht? Allerdings hatte der Krieg im Jahr 1945 geendet, und Kate erinnerte sich genau irgendwo gelesen zu haben, dass Oxford weitgehend vor Zerstörung verschont geblieben war, weil Hitler mit der Stadt persönliche Ambitionen verband. Christopher konnte also nicht bei einem Luftangriff ums Leben gekommen sein. Außerdem hatten die Bombardements vor 1945 stattgefunden, und zwar fast ausschließlich in London. Vielleicht wusste Roz mehr über dieses Thema. Oder besser noch: Kate würde sich ein Buch über die entsprechende Zeit besorgen.
Aus dem Augenwinkel erkannte Kate eine Gestalt, die sich vom Kirchenportal löste und auf sie zukam. Eine Frau!
Kate blieb abrupt stehen. Ihr Herz pochte zum Zerspringen, und ihr Mund fühlte sich unendlich trocken an. Ihre Hände wurden feucht. Sie wollte schreien, sie wollte wegrennen – doch weder zum einen noch zum anderen war sie in der Lage.
»Hallo«, grüßte eine vergnügte Stimme.
Nein, natürlich war es nicht Ruth. Die Frau war jünger – etwa in Kates Alter – und längst nicht so groß wie Ruth. Und wieso sollte Kate Angst vor einer Frau haben, die einen knallblauen Trainingsanzug trug? Jetzt stand sie unmittelbar vor Kate und streckte ihr eine Hand entgegen. Kate registrierte den limettengrünen Nagellack. Die Frau lächelte. Auf dem breiten Mund in ihrem runden Gesicht leuchtete scharlachroter Lippenstift. Das schwarze Haar trug sie sehr kurz geschnitten, und ihre gerade Nase war mit einem kleinen Diamanten im Nasenflügel geschmückt.
»Oh … äh … hallo!«, stotterte Kate.
»Suchen Sie ein bestimmtes Grab, oder sehen Sie sich nur um?« Die Stimme der Frau klang freundlich und absolut nicht beängstigend.
»Ich habe mich nur umgesehen«, antwortete Kate. Sie zeigte auf die Grabplatte von Christopher Douglas Barnes.
»Erst zehn Jahre alt«, sagte die fremde Frau.
»Wissen Sie vielleicht etwas über den Jungen?«
»Ich fürchte, das war vor meiner Zeit.«
Kate entschloss sich, ein wenig mehr preiszugeben. »Es ist nur so, dass ich diesen Namen erst vor ganz kurzer Zeit in einem anderen Zusammenhang gehört habe.«
»Ach wirklich?« Die junge Frau schien darauf zu warten, dass Kate noch etwas mehr sagte.
»Wissen Sie zufällig, ob es hier so etwas wie Kirchenbücher gibt?«, erkundigte sich Kate. »Man schreibt doch sicher auf, wenn hier jemand begraben wird.«
»Es gibt Listen, in denen Bestattungen und Begräbnisse
Weitere Kostenlose Bücher