Schatten über Oxford
asphaltierte Straße zu benutzen. Vermutlich will sie nur schnell zum Supermarkt, dachte Kate.
Alles schien im grünen Bereich.
Der Tag war wunderschön. Eine sanfte Brise trieb kleine weiße Wölkchen über den blauen Himmel. Kate wagte sich einen weiteren Schritt vorwärts. Die Luft roch nach der wohlbekannten Mischung aus frisch gemähtem Rasen, Auspuffgasen und einem weiß blühenden Busch, dessen Namen Kate nicht kannte. Sie erschnupperte einen zarten Restduft der Hacksteaks, die man in Nummer 70 am Vorabend auf der Terrasse gegrillt hatte, und musste niesen. Ach ja, die sommerlichen Pollen!
Nun, es machte keinen Sinn, länger auf dem Gartenpfad herumzustehen. Also weiter! Entschlossen ging Kate zum Gartentor hinunter und öffnete es. Und wohin jetzt? Nach rechts oder nach links? Der Daihatsu war inzwischen weggefahren, also wandte sie sich nach links.
Mit der Sonne im Rücken ging sie mitten auf dem Bürgersteig die Straße hinunter. Falls sich jemand von hinten näherte, würde sein aufholender Schatten sie warnen. Doch an diesem hellen Montagmorgen lag die Straße wie ausgestorben. Nachdem Kate etwa zehn Schritte zurückgelegt hatte, fiel ihr auf, dass sie es kaum wagte, Luft zu holen. Sie zwang sich durchzuatmen und blickte sich um. Zunächst musste sie sich entscheiden, wohin sie überhaupt gehen wollte.
Zaghaft bewegte sie sich vorwärts. Eine graue Mauer und hohe grüne Bäume auf der rechten Straßenseite entpuppten sich als Friedhof. Einen Moment lang vergaß Kate ihre Furcht und überquerte die Straße, um einen Blick hineinzuwerfen. Die Mauer war niedrig, jedoch beständig und tröstlich. Kate legte die Hände auf die verwitterten Steine. Sie fühlten sich kühl und schwer an; der Mörtel war ein wenig rau. Die Mauer ist fest, dachte sie. Sicher. Dahinter erstreckten sich die Gräberreihen. Jemand hatte das Gras zwischen den Grabsteinen gemäht und Unkraut gejätet. Blumen schmückten die gepflegten Gräber. Hier gab es nur Tote. Vor Geistern hatte Kate nicht die geringste Angst – es waren die Lebenden, die ihr zu schaffen machten. In der Mitte des Friedhofs stand die Kirche. Sie war niedrig und grau und hatte einen untersetzten, zinnenbewehrten Turm. Kate fand, dass das Gotteshaus ziemlich alt aussah. Normannisch vielleicht? Oder gar aus der Zeit der Sachsen? In Kirchenarchitektur kannte sie sich nicht besonders gut aus, doch diese alte Kirche stand wahrscheinlich schon seit langer, langer Zeit an diesem Ort.
Kate stieß das Tor auf und ging auf die solide Holztür zu. Sollte sie es wagen, ein weiteres Angstgespenst zu besiegen, und die Kirche betreten? Erinnerungen an Kerzen, Chorgesang und brausende Orgelmusik stiegen in ihr auf. Nein, diesem Albtraum konnte sie sich beim besten Willen noch nicht stellen. Außerdem, so mutmaßte sie, war die Tür vermutlich ohnehin verschlossen. Tatsächlich entdeckte Kate ein Nummernschloss, dessen Code wahrscheinlich nur dem Pfarrer und den Gemeindemitgliedern bekannt war, die sich um den Blumenschmuck kümmerten. Sie brauchte also gar nicht erst den Versuch zu machen, die Kirche zu betreten. Fürs Erste würde es vollauf genügen, um das Gebäude zu schlendern, sich die langsam welkenden Blumen anzusehen und die Inschriften auf den Grabsteinen zu lesen. Zwar würde sie das, was ihren nächsten Roman betraf, keinen Schritt weiterbringen, doch zumindest hielt sie sich so außerhalb der Hörweite von Telefon und Estelles eindringlicher Stimme auf.
Das Gras musste erst kürzlich gemäht worden sein, und so machte es Kate keine Mühe, auf dem Kirchhof zwischen den Gräbern umherzuwandern. Wie es schien, standen die Steine in Gruppen beieinander, die in etwa ihrem Alter entsprachen. Die Inschriften der ältesten, altersschwarzen und mit grauen und orangefarbenen Flechten überwucherten Grabmäler waren kaum noch zu lesen. Was die Daten der nächsten Gräberreihe anging, die um 1800 angelegt worden war, so konnte man sie mit viel Fantasie ansatzweise entziffern. Thomasine , Witwe des Arthur Brown ,las Kate. Nach kurzem Rechnen stellte sie fest, dass besagte Thomasine fast fünfundzwanzig Jahre nach Arthurs Tod immer noch als seine Witwe bezeichnet worden war. Das war also der Status dieser armen Frau? Nun, allzu arm mochte sie nicht gewesen sein. Arthur wurde als Bauer und Landbesitzer bezeichnet und hatte sie vermutlich bei seinem Tod vermögend und so unabhängig hinterlassen, dass sie zum ersten Mal in ihrem Leben selbstständige Entscheidungen treffen
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