Schatten über Oxford
Nachforschungen anstellen und mich in die Sache verbeißen; trotzdem geht es um Menschen, die noch nicht lange tot sind und eine direkte Verbindung zur Gegenwart darstellen.«
»Mit anderen Worten, du willst oben im Speicher herumwühlen?«
»Erraten!«, lobte Kate. Sie fand es immer vernünftiger, sich erst um eine Einwilligung zu bemühen, ehe sie ihre Nase in die Dinge anderer Leute steckte.
George blätterte in seiner Beilage und stieß auf das Foto, eines Lammbratens in einer köstlich roten, mit Kräutern angereicherten Soße. Saftige Stücke Fleisch lockten mit so appetitlichem Aussehen, wie man es in der Realität wahrscheinlich nie erreichen würde.
»Zeit fürs Mittagessen«, stellte er sehnsüchtig fest.
Nach dem von George zubereiteten Mittagessen räumte Kate die Zeitungsberge im Wohnzimmer beiseite und kochte Kaffee.
»Also, dieses Haus hier hat schon was«, begann sie, als sie sich wieder auf ihren Sofas eingerichtet hatten.
»Schon verstanden.« George nickte. »Du möchtest die Geschichte hören.«
»Richtig.«
»Hast du es bequem?«
»Oh ja.«
»Gut, dann fange ich mal ganz von vorn an. Dieses Haus wurde, wie du bereits ausgerechnet haben dürftest, um die Mitte der neunziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts von einem gewissen John Marlyn erbaut. Hatte ich bereits erwähnt, dass sich die weibliche Linie der Marlyns durch eine ganze Reihe ziemlich willensstarker Frauen auszeichnete? Die erste, die uns hier begegnet, ist Johns Schwester Margaret. Sie wurde irgendwann um 1860 geboren – 1865, wenn ich nicht irre –, muss also um die dreißig gewesen sein, als das Haus entstand. Irgendwo gibt es ein Foto von ihr. Wahrscheinlich oben auf dem Dachboden. Du wirst es sicher bald zutage fördern. Sie war eine große, recht dünne Frau mit einer auffällig großen Nase und einem unbeirrbaren Glauben an die Überlegenheit ihres Geschlechts. Wenn du mich unterbrichst, höre ich sofort auf, von ihr zu erzählen. Aber es stimmt, man konnte sie vermutlich als Frauenrechtlerin bezeichnen. Und in ihren Augen erkennst du sogar auf dem Foto diesen besonderen Glanz, den man oft bei Frauen fand, die bereit waren, sich an Geländer zu ketten oder sich vor die Hufe eines Pferdes zu werfen, um für das Stimmrecht zu kämpfen. Aber vielleicht ist dieses Strahlen auch nur der langen Belichtungszeit zuzuschreiben, die man damals noch brauchte. Wo war ich stehen geblieben?
Margaret. Margaret Marlyn. Sie zog in dieses Haus ein, als es noch brandneu war – rote Backsteine, ein hellrotes Ziegeldach und ein kahler Garten. Auch davon muss es irgendwo ein Foto geben. Mir kommt es immer komisch vor, wie sehr es damals den heutigen Häusern in einer Neubauanlage glich.
Du brauchst mehr Details? Dinge, die du in deinem Buch verwerten kannst? Ich weiß nicht, ob ich dir da behilflich sein kann. Die gute alte Margaret vermutlich auch nicht. Sie hatte wohl kaum das Zeug zur romantischen Heldin. John Marlyn überließ ihr das Haus, weil ihm klar wurde, dass sie nie einen Ehemann finden würde. Abgesehen von ihrem eher schlichten Aussehen verfügte sie einfach nicht über die Gabe, Männern zu gefallen. Hör auf, so zu schnauben – John Marlyn wäre sicher entsetzt, wenn er dich hören könnte. Meine Tante Sadie erzählte gern, dass Margaret es einfach nicht fertigbrachte, den Männern brav und unterwürfig zuzuhören. Vermutlich lachte sie nicht über ihre Witze; vielleicht verbesserte sie auch ständig ihre Fehler oder wies sie zumindest darauf hin. Jedenfalls beschloss sie, als unabhängige Frau zu leben, und das zu einer Zeit, als das noch längst nicht gang und gäbe war. Außerdem lernte sie, mit der Schreibmaschine umzugehen. Sie wollte Maschinenschreiberin werden.«
George blickte Kate streng an. »Du brauchst gar nicht zu lachen. So nannte man es damals. Sag mal, klingelt da etwa das Telefon? Ich sollte vielleicht drangehen, falls es jemand vom Brookes ist. Gut, dass wir unterbrochen worden sind«, rief er im Weggehen über die Schulter zurück. »Ich hätte sonst wahrscheinlich noch stundenlang über die ruhmreiche Vergangenheit meiner Familie geredet.«
Am folgenden Morgen steckte einer der Handwerker seinen Kopf durch die Küchentür.
»Das hier hat Bill unter den Dielenbrettern im Schlafzimmer gefunden«, berichtete er. »Muss vor Jahren von einem Kind dort versteckt worden sein.«
Mit diesen Worten reichte er ihnen eine schmutzige, über und über mit Spinnweben bedeckte Blechdose. George stellte sie
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