Schatten über Oxford
es sich immer so verhielt. Einen Moment lang fragte sie sich, ob Chris topher vielleicht noch ein anderes Tagebuch geführt hatte – eines, von dem er nicht wollte, dass jemand es fand. Kinder pflegten ihre Schätze an geheimen Plätzen zu verstecken, war es nicht so? In diesem Fall brauchte sich Kate gar nicht erst der Hoffnung hinzugeben, nach so langer Zeit noch etwas zu finden. Die Keksdose hatte viele Jahre lang unberührt unter den Bodendielen gelegen. Wo sonst hätte der Junge noch etwas verstecken können?
Was auch immer den Kindern zugestoßen war, ging auf jeden Fall auf das Konto von Georges Familie – auch dessen war sich Kate bewusst. Ihre eigenen Großtanten und Onkel besaßen keinerlei Bedeutung für sie. Außer einigen Genen hatten sie ihr nichts hinterlassen. Doch die Dolbys waren, ebenso wie vor ihnen die Marlyns, mit diesem Haus verwurzelt. »Familie« war für sie etwas Greifbares. Dass Kate und Roz jeden Tag zwanzig Minuten miteinander telefonierten, war etwas Neues, aber auch etwas Vorübergehendes. Wenn Roz eines Tages weiterzog – und Kate wusste genau, dass es früher oder später so kommen würde –, dann ginge mit ihr die einzige Familie, die Kate je gehabt hatte. Außer der Erinnerung würde nichts bleiben. Kate wusste, dass auch George und Sam einander fast täglich anriefen. Selbst Emma telefonierte ab und zu mit George. Und es gab noch andere Familienmitglieder, die sich mit krächzenden, alten Stimmen am Telefon meldeten und den lieben George zu sprechen wünschten. Es gab ein ganzes Netzwerk von Dolbys, die alle ihren Platz in dieser Stadt hatten und stolz auf ihre Familiengeschichte waren.
Nun, der letzte Gedanke mochte vielleicht ein wenig übertrieben sein, wie sich Kate eingestand. Möglicherweise erschienen ihr die Dolbys nur in diesem Licht, weil sie selbst keine Familie besaß. Vielleicht funktionierten außer ihrer eigenen alle Familien nach diesem Muster.
Kate kehrte in die Küche zurück, um sie ihrem Zweck gemäß zu nutzen – sie würde dem lieben George ein köstliches Abendessen zubereiten, wenn er nach einem Tag harter Arbeit aus der Universität zurückkam.
Eigentlich lag etwas Befriedigendes darin, sich auf die herkömmliche Rollenteilung von Frau und Mann einzulassen und dem konventionellen Frauenbild zu genügen, fand Kate. Irgendwann musste sie einmal mit Roz darüber sprechen. Und ihre Erfahrungen vergleichen.
Als Kate sehr viel später an diesem Abend noch einmal ihren E-Mail-Eingang überprüfte – glücklicherweise gab es keine neue Mail von Estelle! –, fand sie eine Nachricht von einer gewissen Brenda Boston, die bereit war, über ihre Schulzeit an der Berry Street Secondary School zu berichten, die sie in den vierziger Jahren besucht hatte. Brenda Boston wohnte nur einige Straßen weit entfernt. Einen Moment lang stellte Kate sich vor, wie ihre Mails wie Glühwürmchen in einer warmen Nacht durch die endlosen Weiten des Cyberspace hin und her geflogen waren, um letztendlich im gleichen Quadratkilometer von Oxford wieder zu landen.
Sofort notierte sie sich dieses Bild; nie würde sie einen Einfall vergeuden, den sie in einem ihrer nächsten Bücher vielleicht unterbringen konnte. Dann schickte sie Brenda Boston eine Mail mit einem Terminvorschlag, den sie, weil Kate nicht gerade zu den Geduldigsten im Land zählte, gleich auf den folgenden Tag legte.
Brenda Boston stellte sich als distinguiert gekleidete und für ihr Alter recht gut erhaltene Frau mit kurzem, gewelltem grauem Haar heraus. Sie trug ein dunkelblaues Jerseykleid mit passender Kostümjacke und den weißen Accessoires, die in hochklassigen Frauenzeitschriften während der sechziger Jahre zu finden waren. Genau die Art von Outfit, das immer makellos zu sein hat, dachte Kate und verbarg ihre abgestoßene Handtasche rasch so gut es ging unter ihrem Arm. Die Fensterscheiben hinter Mrs Boston blinkten ohne den kleinsten Streifen, und aus der geöffneten Tür drang der synthetische Zitronenduft von Möbelpolitur.
»Hallo«, begrüßte Kate Mrs Boston heiter. »Wir kennen uns aus dem Internet. Ich bin Kate Ivory und schreibe Bücher. Im Augenblick recherchiere ich über das Leben von Kindern, die während des Krieges von London nach Oxfordshire evakuiert wurden.«
»Ankunftsbereich«, sagte Mrs Boston düster. »So hat man die Gegend hier genannt. Ich finde, das Wort gibt sehr gut die Art von Bürokratie wieder, der wir damals unterworfen waren.«
»Da mögen Sie Recht
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