Schatten über Oxford
zu Papier bringen. Und vor allem sollte sie Christopher Douglas Barnes vergessen. Entschlossen verstaute sie die Blechdose in der untersten Schublade ihres Schreibtischs.
Sie brachte eine halbe Stunde Arbeit zustande, ehe ihr einfiel, dass sie sich eine Tasse Tee hatte gönnen wollen.
6
Nach dem Tee zwang sich Kate dazu, sich wieder ihrem Roman zu widmen. Nachdem sie ein paar Namen für ihre Figuren ausgesucht hatte, fiel ihr auf, dass sie sich unbedingt bezüglich der Dienstgrade bei Armee und Luftwaffe kundig machen musste; an dieser Stelle durfte sie keinesfalls Fehler machen. Doch schon drifteten ihre Gedanken wieder zu Christopher und Susan ab. Wo waren die Kinder hergekommen? London war eine immens große Stadt und Barnes ein relativ häufiger Name. Hatten sie eine Familie gehabt? Gerade, als sie darüber nachdachte, wie sie es anstellen sollte, zusätzliche Informationen über Miss Arbuthnot aus Elspeth Fry herauszubekommen, klingelte es an der Haustür.
»Hallo Kate, ich habe da ein paar Schmankerl für Sie.«
»Kommen Sie rein, Elspeth.«
Es gab wirklich Tage, da lief alles bestens.
»Darf ich Ihnen eine Tasse Tee oder einen Kaffee anbieten?«
»Nein, vielen Dank. Wir Pfarrer ertrinken geradezu im Tee, wenn wir unsere Gemeindemitglieder besuchen.« Mit einer Kopfbewegung deutete sie auf das große Paket, das sie fest umklammert hielt. »Wohin damit?«
Das Paket war nicht nur groß, sondern auch ziemlich staubig. Kate führte Elspeth in die Küche, wo diese ihre aus mehreren gleich großen Kartons bestehende Last auf dem Küchentisch abstellte.
»Was ist das?«, erkundigte Kate sich neugierig.
»Schätze.«
»Und woher stammen sie?«
»Von meinem Vorgänger in der St. Mark Kirche, Reverend Aidan Gloster.« Offenbar machte es Elspeth Spaß, die Geheimnisvolle zu spielen. Kate berührte einen der Kartons mit dem Zeigefinger, malte ein großes K in den Staub und wartete.
»Na schön, ich sage es Ihnen. Aidan legt großen Wert auf Traditionen. Für sein Leben gern hört er den alten Leuten zu, die für ihn die Weisheit vieler Jahre verkörpern. Er drückt sich übrigens tatsächlich so aus! Und eines Tages begann er mit diesem Ein-Mann-Projekt. Er brachte die Leute dazu, vor einem Kassettengerät über ihr Leben, ihre Gedanken und ihre Träume zu sprechen.«
Kate hob den Deckel des Kartons, den sie mit ihrem K markiert hatte. Wie erwartet, befanden sich darin ganze Stapel von Audio-Kassetten.
»Das sind ja Hunderte!«, stellte sie fest. »Viele hundert Stunden Erinnerungen.« Und Arbeit für Wochen, wenn nicht gar für Monate – aber das sagte sie nicht laut.
»Ich nehme an, dass eine ganze Reihe dieser Kassetten nicht mehr funktionstüchtig ist«, warnte Elspeth. »Der alte Knabe hat sich leider nicht um den Erhalt seiner Schätze gekümmert. Zwar brachte er die Leute dazu, in seine magische Maschine zu sprechen, allerdings hatte er mit Technik nicht viel am Hut.«
»Okay. Also nur ein paar Stunden Berichte, die aber in Fragmenten.«
»Ich vermute, die jüngeren Exemplare funktionieren noch. Haben Sie ein Kassettengerät? Dann könnten wir es ausprobieren.«
»Außerdem könnten wir uns auf die Jahre beschränken, die für meine Geschichte interessant sind«, sagte Kate, deren Laune sich zusehends besserte. »Er hat die Kassetten ordentlich mit dem Namen des Erzählers sowie Jahr und Ort beschriftet.«
»Auf einigen findet man sogar Themen. Kirchweih , Besuch beim Zahnarzt , Die Anfänge der Elektrifizierung .Hört sich vielversprechend an, finden Sie nicht? Der gute alte Aidan. Und dann die gestochene Handschrift!«, schwärmte Elspeth, die fast so erpicht darauf schien, die Vergangenheit auszugraben, wie Kate selbst. »Ein bisschen schrullig ist er ja schon – aber wirklich nur ein bisschen. Jedenfalls glaube ich, dass die Kassetten uns weiterhelfen können.«
»Wie schön, dass der gute Mann noch nichts von Datenschutz gewusst hat«, murmelte Kate leise vor sich hin.
»Wie bitte?«
»Ach, nichts. Ich habe nur laut gedacht.« Bei Pfarrern wusste man nie, ob sie nicht plötzlich zum Moralapostel mutierten; besser, man wurde nicht allzu deutlich.
Nachdem sie Violet Watts Gedächtnis ausgereizt hatte und bei der St. Mark Schule abgeblitzt war, wurde Kate klar, dass sie ihre Hoffnungen möglicherweise ganz auf die staubigen Kartons setzen musste. Zumindest würden sie ihr das Material liefern, das Estelle so sehr am Herzen lag. Allerdings war es eher unwahrscheinlich, dass sie hier mehr
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