Schatten über Oxford
uns alle zum Schweigen zwang. Eigentlich sollte man meinen, dass zumindest Schwestern sich gegenseitig vertrauen – aber auch das haben wir nie getan. Dinge jedoch, über die man nie spricht, hören irgendwann auf zu existieren. Irgendwie hatten wir damals keine richtige Kindheit. Die Kinder von heute haben es da viel leichter.«
Brenda hielt einen Moment inne und dachte nach. »Mit den Jahren verändert sich vieles«, fuhr sie schließlich fort. »Ehrlich gesagt glaube ich allerdings nicht, dass sich die Dinge selbst verändern. Ich denke, es ist eher die Art, wie wir sie betrachten.«
Kate dachte an ihren Notizblock, der in den Tiefen ihrer Handtasche vergraben war, verzichtete jedoch darauf, ihn hervorzukramen. Nicht, dass Brenda am Ende noch den Faden verlor oder sich eingeschüchtert fühlte!
»Es könnte aber auch sein, dass wir im Lauf der Jahre stärker werden und uns endlich trauen, uns mit schwierigen Themen zu beschäftigen«, setzte Brenda ihren Monolog fort. »Ich leite jetzt schon jahrelang den Beirat der Berry Road Secondary School. Hört sich toll an, nicht wahr? Dabei war an der Schule durchaus nichts Besonderes. Man wurde dort hingeschickt, wenn man nicht schlau genug fürs Gymnasium war. Heute glaube ich, dass die meisten von uns durchaus in der Lage gewesen wären, ein Gymnasium zu besuchen, nur, dass wir zu viel anderes im Kopf hatten, um uns auf die Schule zu konzentrieren.«
Sie beugte sich nach vorn, griff nach ihrer Tasse, trank sie leer und stellte sie behutsam auf die Untertasse zurück. Auch den Zuckerlöffel rückte sie wieder ordentlich zurecht. Wie Interpunktionszeichen, dachte Kate und wartete darauf, dass Brenda fortfuhr.
»Manchmal glaube ich, dass ich die Position im Beirat nur angenommen habe, um alles kontrollieren zu können«, sprach Brenda schließlich weiter. »Nicht, dass ich Macht über die Leute ausüben wollte. Eher lag mir daran, als Erste zu wissen, was sie sagen wollten.«
Am liebsten hätte Kate nach Christopher Barnes gefragt, der gut und gern ein Klassenkamerad von Brenda hätte gewesen sein können, doch ihr war bewusst, dass sie zunächst den Ausführungen der alten Dame zuhören musste, ehe sie sich anderen Themen zuwenden konnten.
»Natürlich war nicht alles schlecht«, lenkte Brenda ein. »Die Landschaft ist sehr hübsch, und ich habe viel über Wildblumen und Tiere gelernt.«
»Verstehe«, sagte Kate, die allmählich in ein automatisiertes Zuhören verfiel. Im Zimmer war es stickig, und sie befürchtete einzunicken, wenn sie nicht aufpasste. Sie straffte ihren Rücken, um aufmerksam zu bleiben.
»Viele Pflegefamilien behandelten uns Kinder wie kleine Dienstboten. Den ganzen Tag mussten wir polieren oder Staub wischen; uns blieb einfach keine Zeit für Hausaufgaben. Deshalb wollten alle nur Mädchen – Jungen hätten ein solches Arbeitspensum wahrscheinlich nicht durchgehalten. Meine arme kleine Schwester Betty war Bettnässerin. Trotzdem hätten unsere Pflegeeltern sie nicht jedes Mal, wenn sie ihnen ein Missgeschick beichten musste, in den Hundezwinger sperren und den Hund in ihrem Bett schlafen lassen dürfen. Einmal habe ich beim Abtrocknen eine Tasse zerbrochen. Die Frau hat mich dafür mit einer Haarbürste aus Holz genau auf die Fingerknöchel geschlagen. Noch heute erinnere ich mich, wie weh das tat. Nach den Nächten im Hundezwinger wurden wir in eine neue Unterkunft verlegt. Wenigstens das haben sie für uns getan. Bei den neuen Pflegeeltern lief es ganz gut. Aber wir drei haben die erste Bleibe nie wieder erwähnt, nicht einmal, wenn wir unter uns waren. Wir taten, als hätte es sie nie gegeben.«
»Dann war die neue Unterkunft also besser?«, erkundigte sich Kate.
»Das verdanken wir Naomi King. Sie war zuständig für die Unterbringung der Kinder. Ich sehe sie noch auf ihrem alten schwarzen Fahrrad kreuz und quer durch Headington radeln. Ein bisschen merkwürdig wirkte sie schon mit ihrem mausbraunen Haar, den dicken Brillengläsern und dem langen Tweedrock, der um ihre Beine flatterte und sich regelmäßig in der Kette verfing. Aber für uns Kinder tat sie alles, was möglich war. Ich glaube, sie hatte noch nicht sehr viel Lebenserfahrung, ehe der Krieg begann. ›Steile Lernkurve‹, so nennt man das wohl heutzutage. Jedenfalls musste Naomi sie bewältigen.«
»Haben Sie auch Ihren Eltern nichts von der ersten Unterkunft erzählt?«
»Nein. Wenn Mama uns besuchen kam, wollte sie nur die guten Nachrichten hören, das konnte man ihr
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