Schatten über Oxford
über Christopher und Susan Barnes oder die Familien Dolby und Marlyn erfuhr. Doch das hatte auch seine guten Seiten, versuchte sie sich zu überzeugen. Estelle würde vermutlich an die Decke gehen, wenn Kate nicht bald etwas Vernünftiges zu Papier brachte. Dann konnte sie ihre Karriere als Schriftstellerin getrost in den Wind schießen. Junge Frauen in Uniform, junge Männer in Kampfflugzeugen und jede Menge Leidenschaft – das war es, wonach sie suchen musste.
Kate spülte sich am Waschbecken den Staub von den Händen und begann, die Bänder zu durchforsten.
»Schauen Sie«, rief sie plötzlich, »hier ist eins mit der Aufschrift: Sexuelle Aktivitäten .«
»Ich würde mir fast noch lieber das über den Besuch beim Zahnarzt anhören«, meinte Elspeth. »Wo ist Ihr Kassettenrekorder?«
Schließlich saß Kate da und lauschte einer krächzenden, alten Stimme, die ihr mitteilte, dass der Zahnarzt einmal im Halbjahr in einem Pferdefuhrwerk zur Schule kam. »Die Jungen und Mädchen mussten sich in einer Reihe aufstellen und wurden eines nach dem anderen untersucht. Der Zahnarzt hatte einen Bohrer, der mit einem Fußpedal bedient wurde. Und eine muskelbepackte Helferin, die uns auf einem ganz normalen Stuhl festhielt, während der Zahnarzt …«
Kates Aufmerksamkeit schweifte ab. Sie stellte sich vor, was auf dem Band über Sexuelle Aktivitäten wohl zu hören sein mochte. Elspeths verträumter Gesichtsausdruck bei den Berichten über zahnärztliche Eingriffe ohne Betäubung verleitete sie zu der Überlegung, ob ihre neue Freundin möglicherweise eine unterdrückte Neigung zum Sadomasochismus hatte.
Endlich war die Kassette zu Ende.
»Faszinierend«, seufzte Elspeth.
»Finde ich auch«, bestätigte Kate und hoffte, dass es überzeugend klang. »Wirklich sehr freundlich von Ihnen, sich meinetwegen so viel Mühe zu machen.«
»Ach, woher denn?«, wehrte Elspeth vergnügt ab. »Eines Tages möchte ich auch einmal ein Buch schreiben. Das hier betrachte ich als eine Art Lehre. Erst schaue ich Ihnen beim Arbeiten zu, und dann gehe ich hin und mache es nach.«
»Glauben Sie, dass diese Methode, das Schreiben zu erlernen, wirklich sinnvoll ist?«, erkundigte sich Kate.
»Sicher werde ich ein paar eigene Vorstellungen einbringen« erklärte Elspeth.
»Ach so.« Wie zum Beispiel die, tatsächlich auch zu arbeiten dachte Kate. Jedenfalls wäre das eine deutliche Verbesserung gegenüber ihrer derzeitigen etwas planlosen Vorgehensweise.
»Allerdings gibt es da noch eine Sache, bei der Sie mir vielleicht weiterhelfen könnten«, sagte sie laut.
»Und die wäre?«
»Kennen Sie Miss Arbuthnot?«
»Schwarzer Mantel, Hut wie ein Kuhfladen, kennt sämtliche Kirchenlieder auswendig und ist absolut gegen weibliche Pfarrer«, fasste Elspeth knapp zusammen. »Jeder kennt die alte Arbuthnot. Ein Furcht einflößendes Weibsbild.«
»Wissen Sie vielleicht, wo sie wohnt?«
»Sie lebt in einer Erdgeschosswohnung in einem recht hübschen Haus auf der anderen Seite des Parks. Soviel ich weiß, wohnt sie dort schon seit vielen Jahren. Warum wollen Sie das wissen?«
»Sie war Lehrerin in London und wurde mitsamt den Kindern nach Oxford evakuiert, kehrte aber nie nach London zurück.«
»Und aus welchem Grund? Eine heimliche Liebe vielleicht? Ein Soldat, der heldenhaft für sein Vaterland kämpfte und fiel? Ein gebrochenes Herz?«, mutmaßte Elspeth.
»Ich sollte Sie Estelle vorstellen«, bemerkte Kate trocken. »Sie beide kämen sicher großartig miteinander aus.«
»Möchten Sie, dass ich Sie begleite, wenn Sie Miss Arbuthnot besuchen?«, bot Elspeth an. »Ich könnte mich ganz still in eine Ecke setzen und Notizen machen.«
»Nein«, sagte Kate knapp, ehe sie sich auf ihre Manieren besann und hinzufügte: »Danke sehr, aber ich denke, ich erfahre mehr, wenn ich allein gehe. Zu zweit würden wir die alte Dame vermutlich zu sehr einschüchtern.«
Elspeth lachte so laut, dass selbst Kate es als unangemessen für eine Pfarrerin hielt. »Ich glaube eher, Sie werden diejenige sein, die eingeschüchtert ist. Sagen Sie nicht, ich hätte Sie nicht gewarnt! Sie werden sich wünschen, Sie hätten Verstärkung mitgebracht, wenn Sie die nette alte Lady besuchen.«
Nachdem Elspeth gegangen war, setzte sich Kate an ihren Computer. Sie rief ihre Lieblings-Suchmaschine auf und gab den Namen einer der weiterführenden Schulen ein, die Janice Carlton ihr genannt hatte. Bereits wenige Sekunden später sah sie, dass die Schulsekretärin
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