Schatten über Oxford
haben.«
»Ich habe lange über Ihre E-Mail nachgedacht«, teilte Mrs Boston mit, blockierte aber weiterhin ihre Haustür.
Soweit Kate sich erinnern konnte, hatte sie die Mail so unverfänglich formuliert, dass sie so gut wie nichts preisgab. Kate hatte niemanden erschrecken wollen. Und doch schien Mrs Boston Angst zu haben. Etwa vor einer ganz normalen Romanautorin?
»Alles, was ich mir wünsche, ist ein Plausch über die alten Zeiten«, versuchte Kate sie zu beruhigen. »Über Erinnerungen an Ihre Schulzeit.«
»Sicher wollten Sie eigentlich ›gute alte Zeiten‹ sagen, richtig?«
»Nicht unbedingt. Ich verstehe durchaus, dass es für Sie sicher nicht gerade angenehm war, von Ihrer Familie getrennt zu leben.«
Mrs Boston stand da und betrachtete Kate, ohne jedoch den Eingang zum Haus freizugeben. Trotzdem hatte Kate den Eindruck, dass ihre Entschlossenheit ins Wanken geriet Gleich würde sie Kate hineinbitten. Mit Sicherheit handelte es sich nicht um persönliche Antipathie, sondern lediglich darum dass Mrs Boston viel auf Etikette hielt. Kate konzentrierte sich auf einen ruhigen, nicht bedrohlich wirkenden Gesichtsausdruck Interessiert, aber nicht neugierig.
»Kommen Sie doch einen Augenblick ins Haus. Schließlich haben Sie sich schon so viel Mühe gemacht. Obwohl ich Ihnen eigentlich nur erklären will, warum ich nicht mit Ihnen sprechen möchte.« Es hatte funktioniert!
Das Wohnzimmer von Mrs Boston entsprach haargenau Kates Erwartungen. Im Innern des Hauses roch es noch erheblich stärker nach Lufterfrischer und Möbelpolitur. Mrs Boston lud Kate ein, auf einem Sofa Platz zu nehmen, das die Ausstellungsräume eines Möbelhauses gerade erst verlassen zu haben schien. Vier quadratische Kissen waren mit einer Spitze nach oben symmetrisch auf der Sitzfläche drapiert. Da Kate weder die perfekte Ordnung zerstören noch eines der Kissen zerdrücken wollte, balancierte sie unbequem auf der Vorderkante des Sofas.
»Ich habe mir gerade einen Kaffee gemacht. Möchten Sie vielleicht auch eine Tasse?«
»Vielen Dank, sehr gern.«
Mrs Boston schien allmählich aufzutauen. Sie kam mit einer Cafetière mit Messingdeckel und schenkte Kaffee in dunkelblaue Porzellantassen mit makellosem Goldrand ein.
Der Kaffee war ausgezeichnet.
»Sind Sie ebenfalls aus London evakuiert worden?«, fragte Kate, als das Schweigen ungemütlich zu werden drohte.
»Ich weiß nicht, was ich Ihnen sagen soll«, erwiderte die alte Dame mit bekümmertem Gesicht.
»Lassen Sie sich Zeit, Mrs Boston«, sagte Kate und balancierte vorsichtig die Tasse auf die Untertasse zurück, ohne einen Tropfen zu verschütten.
»Nennen Sie mich doch bitte Brenda.« Die Antwort kam nicht spontan, sondern schien wohl überlegt zu sein. Vielleicht wurde die Unterhaltung ja doch lockerer, als Kate zunächst befürchtet hatte. »Meine beiden Schwestern und ich kamen 1940 nach Oxford. Die beiden waren jünger als ich und kehrten im Frühjahr 1945 nach London zurück. Ich hatte mich so gut in der Schule eingelebt, dass ich bei meinen Pflegeeltern blieb, bis ich fünfzehn wurde.«
»Das ist eine lange Trennung.« Kate nickte verständnisvoll und versuchte sich vorzustellen, wie es für das junge Mädchen gewesen sein musste. Jedenfalls schlimmer, als ins Internat geschickt zu werden – eine Erfahrung, die Kate nie selbst gemacht hatte. Schlimmer auch, als mit siebzehn von seiner Mutter verlassen zu werden – und diese Erfahrung hatte sie gemacht.
»Ich bin sicher, dass meine Mutter uns vermisste. Sie besuchte uns ungefähr jeden zweiten Monat, doch allmählich gewöhnte sie sich wohl an ein Leben ohne Kinder. Sie fand eine interessante Arbeit – vor dem Krieg war sie arbeitslos – und hatte endlich eigenes Geld in der Tasche, über das sie vor ihrem Ehemann keine Rechenschaft ablegen musste. Vor meinem Vater«, verbesserte sie sich.
»Haben Sie sich nicht mit ihm verstanden?«
»Wir kannten ihn kaum. Wissen Sie, nach all den Jahren, die er fort war, ist das vermutlich normal. In unseren Augen war er ihr Ehemann, nicht unser Vater. Nicht, dass wir je darüber gesprochen hätten – so etwas war damals nicht üblich. Erst in letzter Zeit muss ich viel darüber nachgrübeln. Merkwürdig, wie wenig wir miteinander geredet haben!«
»Aber es ist auch merkwürdig, wie wenig wir von Kindern verstehen«, warf Kate ein. »Eigentlich müssten wir viel mehr über sie wissen. Schließlich waren wir alle einmal Kind.«
»Es war wie eine große Verschwörung, die
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