Schatten über Oxford
hören?«
»Ich habe mich ausgeruht. Ich habe geschlafen. Und jetzt langweile ich mich, kann mich aber zu nichts aufraffen.«
»Energiemangel? Kein Interesse an der Außenwelt? Konzentrationsstörungen? Keine Lust auf Sex?«
»Ja, ja, ja, nein – in dieser Reihenfolge.«
»Na gut. Aber ich glaube trotzdem, dass du an einer ausgewachsenen Depression leidest.«
»Vielen Dank, Dr. Ivory.«
»Mach dich nur über deine Mutter lustig. Trotzdem komme ich jetzt sofort zu dir rüber.«
Gut, das würde ihre Mutter immerhin von ihren Ausflügen ins Internet abhalten. Wie sie Roz kannte, befürchtete Kate, dass ihre Recherchen mindestens anstößig, ungehörig oder vielleicht sogar pornografischer Natur waren.
Eine Viertelstunde später klingelte die Türglocke derart penetrant, dass sie nur Roz Ivory ankündigen konnte. Kate öffnete die Tür.
»Fruchtsaft«, sagte Roz triumphierend und marschierte mit ihren vollgepackten Plastiktüten geradewegs in die Küche durch. »Ich habe deiner Stimme angehört, dass du wieder mal viel zu viel Kaffee getrunken hast. Und dann alle Arten von Beeren. Himbeeren, rote Johannisbeeren, Blaubeeren, rote Weintrauben und schwarze Johannisbeeren. Du musst sie nur abwaschen, die Stiele entfernen und sie in einer Schüssel mischen. Sehr belebend. Genau das, was du brauchst. Außerdem Fischfilets. Bestreich sie mit Olivenöl, und heute Mittag ab unter den Grill damit. Und ein grüner Salat als Beilage.«
Sie packte aus und redete dabei ununterbrochen. Kate hätte kein Wort loswerden können, selbst wenn sie gewollt hätte.
»Ein Video mit Gymnastikübungen«, fuhr Roz fort und drückte es Kate in die Hand. »Die sanfte Variante für die ältere Dame. Ich dachte, das passt in etwa zu deinem Gemütszustand.«
»Ich will aber keinen Sport treiben«, wandte Kate ein.
»Ich weiß. Sonst hätte ich dir nämlich deine Laufschuhe mitgebracht. Aber du kannst dir das Ding immerhin ansehen und ein wenig mitmachen, wenn dir danach ist.« Sie sprach so mitleidig, dass Kate sofort beschloss, mindestens die doppelte Anzahl von Übungen auf die Matte zu bringen, als man den älteren Damen nahelegte. Doch dann wurde ihr klar, dass ihre Mutter genau das beabsichtigt hatte.
»Ich denke darüber nach«, sagte sie.
»Aber du fühlst dich jetzt schon besser. Gib es ruhig zu!«
»Gut, ich gebe es zu.«
»Komm, wir nehmen uns ein Schälchen Beeren und setzen uns ins Wohnzimmer.«
»Möchtest du einen Schuss Wodka in deine Beeren?«
»Nicht, wenn ich noch fahren muss«, behauptete Roz fromm. »Ich werde mir heute Abend einen Drink genehmig wenn ich wohlbehalten wieder zu Hause bin.«
»Ich finde dich heute irgendwie schrecklich fürsorglich und fürchterlich anständig. Das bringt mich völlig aus dem Tritt. Könntest du dich nicht wieder in dein übliches lässig verantwortungsloses Ich verwandeln?«
»Nicht, ehe du nicht wieder auf dem Damm bist«, erklärte Roz entschlossen.
»Und was schlägst du vor, wie ich das anstellen soll?«
»Zunächst einmal essen wir gemütlich zu Mittag. Dabei wirst du mir von deinem neuen Buch erzählen und warum du es nicht schreiben kannst.«
Sie aßen gegrillten Fisch mit grünem Salat. Zum Nachtisch gab es Beeren. Roz gestattete Kate, ihre Portion mit Zucker zu bestreuen. Danach betrachtete sie ihre Tochter so kritisch als erwarte sie bereits eine Verbesserung. Kate mochte sie nicht enttäuschen.
»Gehen wir in mein Arbeitszimmer?«, schlug sie vor. »Dann kann ich dir zeigen, was ich in den letzten Tagen getan habe.«
»Was ist das für eine Kassettensammlung?«, fragte Roz, als alles auf dem Schreibtisch lag.
»Bisher habe ich mir nur eine einzige angehört«, gestand Kate, »und die noch nicht einmal ganz. Ich hätte auch Naomi Kings traurige Geschichte als Vorlage nehmen können, wenn ich die Geduld gehabt hätte, ihrer Nichte zuzuhören. Aber ich habe nur daran denken können, so schnell wie möglich nach Hause zu kommen und nachzulesen, was sie über die evakuierten Kinder geschrieben hat.«
»Da hast du doch die Antwort«, stellte Roz fest.
»Und die wäre?«
»Du bist nicht in der Lage, einen romantischen Roman für Estelle zu schreiben, solange du nicht das Geheimnis der beiden Kinder vom Speicher gelöst hast.«
»Wohnten sie etwa auf dem Speicher?«
»Keine Ahnung. Ich habe es im übertragenen Sinn gemeint.«
»Ach so.«
»Setz dir einfach ein Zeitlimit – sagen wir mal ein oder zwei Wochen –, um alles über die Kinder herauszufinden, was
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