Schatten über Oxford
die Marmeladengläser und brachte mich zur Tür – alles innerhalb von fünf Minuten.
Das Schlimme ist, dass ich für die Kinder verantwortlich war. Und jetzt ist eines von ihnen tot. Vermutlich liegt es an meinem Schuldgefühl und einer gewissen Hilflosigkeit, dass ich solche wilden Gedanken habe. Sie sind auch der Grund, weshalb ich nachts wach liege und mich nach dem Herbst und einem Neuanfang sehne, in dem der Krieg nur noch eine verblassende Erinnerung ist.
Wenn der Krieg eines Tages vorbei ist.
Wie oft haben wir diese Worte ausgesprochen, du und ich. Jetzt aber haben sie eine völlig andere Bedeutung für mich bekommen, weil ich mich einem Leben ohne dich stellen muss.
Ich war im Krankenhaus, bevor Christopher starb. Ich wollte ihm sagen, dass er sich keine Sorgen zu machen braucht und dass ich für ihn auf Susan aufpassen würde. Aber ich konnte nicht mit ihm sprechen. Er lag einfach nur da. Sein Gesicht war kreidebleich, und seine Augen wirkten wie dunkle Löcher. Man hatte seinen Kopf bandagiert, und konnte ich nicht sehen, ob er noch andere Verletzungen hatte. Er stand unter schweren Beruhigungsmitteln und glitt bereits von einem Leben ins nächste.
Was soll ich bloß mit Susan anfangen, wenn sie aus dem Krankenhaus entlassen wird? Auf keinen Fall kann ich sie zu Miss Marlyn zurückschicken. Ich sehe Susan an, dass sie genau davor Angst hat.
»Keine Sorge, mein Mädchen. Dir wird schon etwas einfallen, wenn es so weit ist. Du wirst schon das Richtige tun. Das tust du immer.«
Ich wünschte, du hättest Recht, Philip. Und doch kann ich sie kaum nach London zurückschicken. Nicht nur wegen der Bomben. Es geht auch um die schreckliche Krankheit ihrer …
Hier endete die letzte Seite.
Was mochte Naomi King mit Susan gemacht haben, als das Mädchen aus dem Krankenhaus kam? Die Wohlfahrtsverbände waren damals noch längst nicht so gut organisiert wie in späteren Jahren, und Susans Zukunft hatte vermutlich in den Händen wohlmeinender, aber nicht professionell ausgebildeter Menschen wie Naomi King gelegen.
Wahrscheinlich war das Mädchen bei neuen Pflegeeltern in einem angemessenen Haus untergekommen – doch ob in Oxford oder in London, das würde Kate wahrscheinlich nie herausfinden.
9
Am folgenden Morgen klingelte das Telefon genau im richtigen Moment.
Kate saß zusammengesunken auf dem Sofa und kämpfte gegen eine Woge der Unentschlossenheit an. Gerade hatte sie den dritten Becher mit starkem Kaffee getrunken und sah, wie ihre Hände zitterten, während sie versuchte, eine Liste mit den zu erledigenden Dingen des Tages zu erstellen. Sie konzentrierte sich darauf, nur Dinge aufzuschreiben, von denen sie wusste, dass sie sie schaffen konnte, doch weiter als »Aufstehen« und »Vom Sofa entfernen« war sie noch nicht gekommen. Beide Tätigkeiten gingen über ihre Kräfte hinaus. Glücklicherweise stand das Telefon unmittelbar neben ihr.
»Kate? Hier ist Roz.«
Eine Roz mit guter Laune war genau das, was Kate jetzt brauchte.
»Ich wollte nur wissen, ob du etwas dagegen hast, wenn ich deinen Computer unten im Arbeitszimmer in der Agatha Street benutze.«
»Kein Problem. Ich habe mein Notebook hier.«
»Dein Notebook? Na, prima.«
»Wozu brauchst du den anderen Rechner?«, fragte Kate.
»Um ins Internet zu gehen.«
»Vertreibst du dir die Zeit mit Surfen?«
»Ich habe ein paar ganz interessante Webseiten gefunden«, entgegnete Roz ein wenig selbstgefällig. »Ich glaube, du hast die Möglichkeiten deines Computers noch nie wirklich ganz ausgeschöpft.«
»Hast du dich etwa auf Internetdating verlegt?«
»Ganz bestimmt nicht. Virtuelle Liebe ist nicht mein Ding. Ich stehe auf echte Beziehungen.«
»Was suchst du denn sonst im Netz?«
»Du klingst mir heute ganz schön bissig. Ich kann schließlich mindestens ebenso gut recherchieren wie du. Und das Internet ist nun mal die neueste Errungenschaft auf diesem Gebiet.«
»Wo wir gerade beim Thema sind«, sagte Kate, »ich komme mit meinen Recherchen irgendwie nicht weiter.«
»Woran liegt es?« Roz schien erleichtert, dass ihre eigenen Aktivitäten vom Tisch waren.
»Lethargie.«
»Ich dachte, du kämst so gut voran. Du bist aus dem Haus gegangen, hast mit anderen Leuten gesprochen und bist sogar in einer Kirche gewesen.«
»Das stimmt ja alles. Aber jetzt scheine ich unter einer Art Gegenreaktion zu leiden. Mein Kopf sagt ›Lass mich in Ruhe, ich habe genug gearbeitet. Ich will schlafen‹.«
»Aber du willst nicht auf ihn
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