Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Schatten über Oxford

Titel: Schatten über Oxford Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronica Stallwood
Vom Netzwerk:
dann hätte sie sogar noch Zeit, Naomis Aufzeichnungen vor dem Abendessen zu lesen.
    Es dauerte ungefähr zwanzig Seiten, ehe der interessante Teil begann.

8
    … weiß, dass manche Leute das Nahen des Herbstes fürchten. Die Nächte werden länger, und der Winter schickt seine Vorboten. Aber ich liebe diese Zeit. Ich liebe den Duft von Holzfeuern am Abend und den Nebel, der wie Engelsatem morgens durch das Tal wallt. Ich liebe den Tau, der auf Windschutzscheiben perlt und von den Dachrinnen tropft, doch am meisten liebe ich das Gefühl, dass nun die ernst zu nehmende Zeit des Jahres beginnt – die Zeit des Neubeginns und der Hoffnung.
    Traditionsgemäß schreibt man diese Attribute wohl eher dem Frühling zu. Doch der Frühling ist anders. Zum Frühling gehört die Möglichkeit, ja vielleicht sogar die Unausweichlichkeit eines Fehlschlags. Der Frühling zwingt uns, uns an allem Hellen, Schönen und Erfolgreichen zu messen. Der Frühling weckt Wünsche. Der Frühling schürt meine Ängste, weil er mir vor Augen führt, wie sehr ich meine eigenen Erwartungen an mich selbst enttäuscht habe.
    Bilde ich es mir nur ein, oder waren diese Kriegssommer wirklich so warm, schön und wolkenlos, im Gegensatz zu härteren und kälteren Wintern als üblich? Ich weiß es nicht. Vielleicht liegt es daran, dass unsere Sinne empfänglicher sind, weil wir wissen, dass dieser Sommer, dieser heiße, wolkenlose Tag voller summender Bienen und mit Kondensstreifen auf einem azurblauen Himmel, unser letzter sein könnte.
    Es war nicht mein letzter Tag, aber deiner, Philip.
    »Jetzt bist du wieder melodramatisch, Naomi.« Das würdest du jetzt sagen – hättest du gesagt, wenn du noch bei mir wärst.
    Du würdest auch sagen, dass ich ein bisschen verrückt bin, aber ich spreche noch oft mit dir, Philip. Manchmal frage ich dich um Rat und wünsche mir sehnlichst, du würdest mir wirklich antworten.
    Ich bemühe mich, mein Leben so zu gestalten, dass es auch ohne dich einen Sinn hat. Manchmal verstehe ich nicht, warum ich noch hier bin, während du tot auf dem Grund eines unbekannten Meeres liegst. Mir bleibt nichts, als mein Leben nach meinen Möglichkeiten so gut es eben geht zu gestalten. Klingt diese Aussage förmlich und gezwungen? Sie ist es wahrscheinlich auch.
    Es fällt mir nicht immer leicht. Oh, manchmal klappt es. Manchmal vermittele ich normale Kinder in normale Familien, und alle fühlen sich wohl. Sie gewöhnen sich aneinander. Sie lernen, einander gernzuhaben. Wir alle wissen, dass wir uns im letzten Kriegsjahr befinden. Wir alle wissen, dass es nicht mehr lange so weitergeht, und doch fallen immer noch Bomben auf London und den Südosten des Landes. Die Schlange kleiner Kinder und ihrer Mütter, die ihre wenigen Habseligkeiten in Kinderwagen aus Richtung Südosten in unsere Stadt transportieren, reißt einfach nicht ab.
    Ich tue mein Bestes. Du musst mir wirklich glauben, Philip, ich tue mein Bestes! Aber manchmal geht es schief, trotz aller Bemühungen. Die Arbeiterklasse ist schwierig. Sie kann sehr hart zu Kindern sein, vor allem zu fremden Kindern. Die eigenen Kinder werden in den Haushalt eingebunden, und daher erwartet man von den kleinen Besuchern, dass sie das Gleiche leisten. Doch die Kinder aus London sind nicht an unsere Lebensweise gewöhnt. Sie erwarten, zu jeder Tages- und Nachtzeit nach Belieben herumlaufen zu können und ihr Butterbrot unterwegs essen zu dürfen. Die festen Essens- und Schlafenszeiten der Kinder hier auf dem Land sind ihnen unbekannt.
    Warum ich dir das alles erzähle? Nun, natürlich handelt es sich dabei nur um nebensächliche Probleme. Um Anpassungsschwierigkeiten, die sich auf Dauer von selbst regeln.
    Es geht um Christopher und Susan Barnes, aber das weißt du sicher.
    Niemals hätte ich sie in High Corner unterbringen dürfen. Heute ist mir das klar – nachträgliche Einsicht ist eine feine Sache. Aber was sollte ich tun. Ich konnte die großen Mittelklasse-Häuser, die sich jahrelang geweigert haben, Flüchtlinge aufzunehmen, nicht länger ignorieren. Ich konnte nicht immer wieder die gleichen, viel ärmeren Familien bitten, Opfer zu bringen, während die Wohlhabenden sich vor der Verantwortung drückten.
    »Es ist schwierig für sie, sich unserem Lebensstil anzupassen«, sagte sie mit dieser ihr eigenen arroganten Stimme. Dabei wusste ich, dass die Kinder aus einer guten Familie stammen. Natürlich waren sie nicht so reich wie die Marlyns, doch sie waren sauber und hatten gute

Weitere Kostenlose Bücher