Schatten über Sanssouci
gemeinsam. Abgesehen davon, dass wir im Staate desselben
Königs leben und ihm dienen. Und nun verrate ich Ihnen etwas: Ich weiß die
Antwort.«
Quantz wäre beinahe
die Tasse aus der Hand gefallen. »Sie wissen, wer den Lakai auf dem Gewissen
hat?«
La Mettrie verzog
das Gesicht, als habe er auf eine Zitrone gebissen. »Monsieur – kommen Sie mir
nicht mit Gewissen. Lassen Sie das aus dem Spiel. Der Mörder hat den Jungen
nicht auf dem Gewissen.«
»Wie bitte?«
»Jedenfalls nicht
unbedingt. Hören Sie genau zu. Entscheidend ist, dass der Tod des Lakaien den
Mörder entweder einem Glückszustand näher brachte, den sich der Mörder vorher
ausgemalt hat. Oder er wurde durch bestimmte Umstände gezwungen, so zu handeln.
Was natürlich bedeutet, dass er den Mord nicht freiwillig, nicht in der
Situation, in Freiheit handeln zu können, begangen hat. Und somit trägt er
keine Schuld an seinem Tun, denn es ist gar kein Mord gewesen. Und einen Mörder
gibt es gar nicht.«
Ging das schon
wieder los! Quantz war nicht mitgekommen. Das war ihm alles zu hoch, dieses
Gerede von Glück, Zwang und Freiheit. »Aber wer ist denn der Schuldige?«, rief
er aus. Der Kopfschmerz flammte wieder auf. »Sagen Sie es mir«, fügte er leiser
hinzu.
»Haben Sie es immer
noch nicht begriffen? Wir reden nicht von Schuld. Der Mörder oder Nichtmörder
ist nicht schuldig. Er hat es getan, aber von Schuld kann man doch nicht
sprechen, wenn er nicht freiwillig gehandelt hat. Das hatten wir schon. Folgen
Sie doch meinen Gedanken, Monsieur. Sie sind verkettet wie die Noten einer
Melodie. Ebenso logisch. Und von ähnlicher Schönheit.«
»Das mag sein«,
sagte Quantz. Was wollte dieser La Mettrie eigentlich? Warum war er hier? Ach
ja, es war um einen Termin auf dem Schloss gegangen. Um Hilfe für Quantz. Aber
sollte diese Hilfe in eifrigem Philosophieren bestehen? Darauf konnte er
verzichten. »Das ist mir zu hoch, Monsieur. Aber Sie haben mir Hilfe angeboten,
wenn ich mich recht erinnere. Soll sie darin bestehen, über die Schuld eines
Mörders zu diskutieren, den ich noch nicht einmal kenne? Ich habe den Eindruck,
Sie kennen ihn auch nicht …«
La Mettrie stellte
die Tasse auf den Tisch neben die leere Kanne. »Nicht persönlich. Doch die
Akribie, mit der der Junge getötet wurde, die Inszenierung, mit der man Sie an
den Ort des Geschehens gelockt hat … All das erfordert Planung. Und
Planung bedeutet, es gibt einen tieferen Grund, als es bei einer kurz
entschlossenen, affektgeladenen Tat der Fall ist. Es muss also dem Mörder –
oder sagen wir lieber dem Täter – daran gelegen gewesen sein, dass Sie in die Sache
verwickelt werden. Was wiederum nur funktioniert, wenn Sie die Leiche finden,
und das auch noch auf diese mysteriöse Weise auf Ihrem nächtlichen Ausflug –«
»Danke«, sagte
Quantz, »aber so weit war ich auch schon.«
Der Franzose nickte
beifällig. »Wenn man mit rationaler Überlegung nicht weiterkommt, muss man ein
anderes Mittel der Erkenntnis nutzen. Am besten das Mittel der Empirie.«
»Was soll das jetzt
wieder sein?«
»Statt Schlüsse zu
ziehen, begeben wir uns zum Corpus delicti und sammeln weitere Fakten. Genau
darum geht es bei dem Termin, zu dem ich Sie abholen möchte. Kommen Sie.«
La Mettrie
schlug den Weg zum Stadtschloss ein. Quantz, dessen Kopfschmerzen von der
milden Frühlingsluft gelindert wurden, versuchte mehrmals, aus La Mettrie
herauszubekommen, was er mit Corpus Delicti meinte. Doch der Franzose wehrte
seine Fragerei immer nur mit Wendungen wie »Das werden Sie gleich sehen« oder
»Haben Sie Geduld« ab und war im Übrigen in ein für ihn ganz ungewohntes
Schweigen versunken.
Vor dem Portal blieb
La Mettrie stehen. Die Wache kam auf sie zu. Der Franzose wartete gar nicht
erst, bis er angesprochen wurde. »Der Kammerherr des Königs zu einem Termin im
Schloss«, sagte er, griff in sein Wams und holte den Kammerherrenschlüssel
hervor, den er an einer dünnen Kette um den Hals trug. Es war das Insignium der
Befugnis und Ehre, die Räume des Königs betreten zu dürfen.
»Und Er?« Der Soldat
reckte das Kinn in Richtung von Quantz.
»Der königliche
Maître de Musique du chambre«, verkündete La Mettrie, als gelte es, den
Kammermusiker auf einem Hofball vorzustellen.
» Was ist er?« Der Grenadier hielt die Hand ans Ohr, als habe er sich verhört.
Quantz verkniff sich
ein Grinsen. Sein Titel als königlicher Kammermusiker klang auf Französisch
gleich viel schöner.
La Mettrie
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