Schatten über Sanssouci
hatte ihn fast ein bisschen warm gemacht. »Also gut. Dann sollten wir
keine Zeit verlieren. Kommen Sie.«
»Diese Preußen«,
schimpfte La Mettrie. »Erst alles in Frage stellen, und dann kann es nicht
schnell genug gehen.«
Unter seinen
Fußsohlen spürte Quantz jedes Steinchen und jeden spitzen Halm. Weit entfernt
schwebten Lichter in der Dunkelheit. Andere wanderten rechts davon, der Stadt
zu, über die Lange Brücke. Das waren die Wachen, die auf der Flussüberquerung
patrouillierten.
Weiter links, auf
dem Ufer, das Potsdam gegenüberlag, befand sich die Akzisestelle, wo man vor
der Überquerung der Havel kontrolliert wurde. Auch dort war ein heller Punkt zu
erkennen. Das Zollhaus war sicher ebenfalls mit Soldaten besetzt.
»Vielleicht ist es
besser, wenn wir uns einfach der Wache stellen«, sagte Quantz, dessen Füße so
sehr schmerzten, dass er die Kälte fast vollkommen vergessen hatte. »Vielleicht
können wir uns herausreden. Wir könnten sagen, Brede hätte uns einsperren
wollen, weil wir seinem Geheimnis auf die Spur gekommen sind.«
La Mettrie stöhnte
auf. »Herr Quantz, ich gebe zu, dass unsere Lage nicht gerade die beste ist.
Trotzdem sollten Sie Ihren Verstand gebrauchen. Man wird uns nach wie vor des
Verrats beschuldigen. Man wird glauben, wir beide seien Bredes Verbündete,
seine Helfer. Sie stehen ohnehin unter Verdacht, und bei mir … Nun, Seine
Majestät verzeiht mir ja meine freie Denkungsart, und er hat sich nicht an der
Verfolgung beteiligt, die mir wegen meiner Schriften in ganz Europa widerfuhr.
Aber Verrat – und auch schon den kleinsten Verdacht von Verrat – wird er nicht
tolerieren.«
»Ihre Schriften über
den Menschen, der eine Maschine sein soll«, brummte Quantz. »Diesen Unsinn
müssen Sie mir einmal genauer erklären. Jeder weiß doch, dass der Mensch nicht
nur aus Körper, sondern auch aus Geist besteht. Und dass das Denken, ja sogar
die Seele völlig unabhängig von allem Körperlichen sind. Aber bitte tun Sie mir
einen Gefallen, Monsieur. Erklären Sie es mir nicht jetzt. Wir haben gerade
andere Probleme …«
»Probleme, ja«,
sagte La Mettrie. »Sehen Sie den hellen Streifen dort hinten? Das ist die
Straße. Es ist nicht mehr weit.«
Quantz schrie auf,
als er wieder in etwas Spitzes trat. »Ich kann nicht so schnell. Und Sie haben
vollkommen recht. Seine Majestät bringt mir angesichts meiner langen Verdienste
bei Hofe immer noch großes Vertrauen entgegen. Doch wenn er befürchten muss, dass
ich dem Feind in die Hände spiele … Ach, ich weiß es auch nicht …«
»Sie können nicht so
gut nachdenken, weil Sie gerade müde, nass, schmutzig und voller Schmerzen
sind, habe ich recht?«, fragte La Mettrie.
»Aber natürlich. Was
soll diese Frage? Wenn ich bei einem Glas Wein zu Hause säße, mit Sophie in
meiner Nähe … Dabei fiele mir das Denken leicht.«
»Sie glauben somit
also, dass äußere Einflüsse – in diesem Fall der Wein und die angenehme
Umgebung – auf Ihren Körper wirken, und dass diese Einflüsse wiederum die
Qualität Ihres Denkens bestimmen? Dass Sie besser denken können, wenn sich Ihr
Körper wohlfühlt? Dass Ihre Seele jubiliert, wenn Sie angenehme Dinge
genießen?«
»Selbstverständlich.
Aber ich wäre Ihnen sehr verbunden, Monsieur, wenn Sie mich jetzt nicht in eine
philosophische Diskussion verwickeln würden. Ich wüsste lieber, wie wir den
Rest der Nacht einigermaßen komfortabel verbringen können.«
»So glauben Sie
also«, fuhr La Mettrie unbeirrt fort, »dass Ihr Denken, Ihre seelischen
Empfindungen und Ihr Körper zusammenhängen wie, sagen wir, wie Glieder einer
Kette? Seele und Weingenuss sind eins. Sie glauben, dass dies alles ein
Gesamtes ist. Ja, das glauben Sie. Nur wenn das eine sich wohlfühlt, fühlt sich
auch das andere wohl. Und die Quelle des Wohlbefindens ist also stets diese
unsere Welt, keine jenseitige, geistige, andere. Denn der Wein ist ja nun
nichts Jenseitiges …«
»Ich will nicht
philosophieren«, schrie Quantz. Er beschleunigte seine humpelnden Schritte,
aber die Schmerzen waren zu groß. Immerhin war die Straße jetzt viel näher.
La Mettrie gab nicht
auf. »Der Mensch ist in all seinen Empfindungen somit einem einzigen, ich
wiederhole, einem einzigen, und zwar vollkommen diesseitigen, also einem sich
nur in dieser einen materiellen Welt befindlichen Prinzip unterworfen«,
dozierte er munter weiter. »Er ist nur in dieser Welt existent. Und das gilt
auch für seinen Geist und seine Seele –
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