Schatten über Sanssouci
sie sich mitten auf dem Fluss. Quantz konnte auf der Havelinsel vor
den Palisaden einzelne Soldaten erkennen. Der Himmel über ihnen war von
bläulichem Grau. Hinter der Stadt, die sich schwarz und hart vor dem letzten
Licht abhob, musste gerade die Sonne untergegangen sein.
»Wir müssen noch einmal
tauchen«, sagte La Mettrie. »Sonst sehen sie uns.«
Er zog Quantz
hinunter, und gemeinsam schwammen sie dem jenseitigen Ufer entgegen. Plötzlich
streiften Quantz’ Zehen den Untergrund. Er gewann Boden unter den Füßen. Sie
liefen ans Ufer.
»Kommen Sie, ins
Gebüsch«, zischte La Mettrie.
Sie waren ganz in
der Nähe der Nuthe gelandet – dem schmalen Flüsschen, das der Heiliggeistkirche
gegenüber in die Havel mündete. Das Ufer war mit kleinen Bäumen und Büschen
bewachsen, hinter denen sie sich duckten.
»Ich dachte schon,
Sie kommen gar nicht mehr«, sagte der Franzose. »Sie wollten mich doch nicht
etwa im Stich lassen?«
»Ich dachte, Sie
kommen zurück, weil Sie nichts herausgefunden haben.« Quantz wurde bewusst,
dass er wie ein Feigling dastand.
»Und da haben Sie
erst einmal darauf spekuliert, trocken zu bleiben, ich verstehe. Doch wir haben
es geschafft, wir haben den Fluchtweg entdeckt. Jetzt können wir eindeutig
beweisen, wie die Desertionen vonstattengehen. Das ist doch etwas. Dieser Brede
wird seiner gerechten Strafe nicht entkommen.«
Eine Brise Abendwind
kam vom Fluss her und hinterließ auf Quantz’ nasser Haut eine Kälte wie eine
Eisschicht. Seine Rückenschmerzen kamen ihm in den Sinn, die ihn hin und wieder
plagten. Wahrscheinlich spürte er sie nur deshalb nicht, weil die Intensität, mit
der er fror, alles andere überdeckte. »Und wir gehen einem furchtbaren Tod
entgegen, wenn wir weiter hier herumsitzen. Monsieur – ich glaube, es war keine
gute Idee, den Weg der desertierenden Soldaten bis zuletzt zu verfolgen. Wie
kommen wir denn nun in die Stadt zurück? Wir haben noch nicht einmal trockene
Kleidung. Und selbst wenn wir ein Feuer machten, können wir uns in Unterhosen
nicht in der Öffentlichkeit zeigen.«
»Diese Schwierigkeit
hatten die flüchtenden Soldaten auch. Und es muss irgendeine Abhilfe geben.
Lassen Sie mich überlegen. Denken wir logisch …«
»Etwas schneller
bitte. Ich erfriere.« Quantz überfiel heftiger Schüttelfrost. Seine Glieder
zitterten, seine Zähne klapperten. Er presste die Kiefer zusammen, bis die
Muskeln schmerzten.
»Man hat ihnen
Kleidung gegeben«, mutmaßte La Mettrie, dem die Kälte nicht das Geringste
auszumachen schien. »Genau das ist es. Es wird eine Hütte oder ein anderes
Versteck geben, wo trockene zivile Kleidung aufbewahrt wird. Aber wo?«
Quantz erhob sich.
Er spürte den heftigen Drang, sich zu bewegen. Bewegung war das einzige Mittel
gegen die Kälte.
»Wo Sie da schon
stehen«, sagte der Franzose, »könnten Sie bitte mal nach einer Hütte oder etwas
Ähnlichem Ausschau halten?«
Hinter dem Streifen
von Büschen und kleinen Bäumen erstreckten sich sumpfige Wiesen an der Havel.
Jenseits der Nuthe lag ein Gebiet voller wilder Weidenbäume und Wasserlöcher.
Dort konnte sich leicht ein Versteck mit nützlichen Dingen für Flüchtlinge
befinden.
»Es ist schon zu
dunkel. Ich kann nichts erkennen«, sagte Quantz. »Und wollen Sie wirklich auf
Strümpfen den Sumpf durchsuchen? Das wäre noch nicht einmal bei Tageslicht und
in trockener Kleidung eine gute Idee.«
Der Franzose
antwortete nicht.
Mit einem Mal
überkam Quantz ein Gefühl von tiefem Elend. Wenn sie nicht bald ins Trockene
kamen, stand ihnen eine Nacht bevor, die ihnen vielleicht tatsächlich den Tod
brachte. Zumindest ihm. La Mettrie schien ja aus härterem Holz geschnitzt zu
sein. »Ich wünschte, Sie würden uns mit Ihrem stets heraufbeschworenen Denken
bald aus dieser Lage befreien.«
»Ich versuche es
ja.« Die schneidende Stimme des Franzosen war zum ersten Mal, seit Quantz ihn
kannte, stumpf geworden. La Mettrie klang weinerlich. »Meinen Sie, mir macht es
Freude, hier durchnässt herumzusitzen? Doch eine Möglichkeit gibt es. Die
Landstraße ist nicht weit. Wir könnten uns dorthin durchschlagen. Vielleicht
finden wir einen Bauern, der uns in Richtung Berlin mitnimmt.«
»Jetzt, in der
anbrechenden Nacht? Ich glaube nicht, dass um diese Zeit jemand unterwegs ist.«
»Welche Wahl haben
wir denn?«, fuhr La Mettrie auf. »Wir können es zumindest versuchen, oder
nicht? Immer noch besser, als hier frierend herumzuhocken.«
Quantz seufzte. Der
Ärger
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