Schatten über Sanssouci
organisiert.«
»Ich weiß nicht,
wovon Sie sprechen.«
La Mettrie hatte
sein Schreibgerät in der Hand, drehte den Bogen um und legte ihn mit der leeren
Seite nach oben vor sich hin auf die Dielen. Quantz tat einen Schritt und
stellte seinen Fuß auf die weiße Papierfläche.
»Was fällt Ihnen
ein«, brüllte La Mettrie. »Lassen Sie mich auf der Stelle arbeiten.« Er holte
aus und stach mit der Feder zu. Quantz spürte einen heftigen Schmerz an der
Wade. Ein blauer Tintenfleck erschien auf seinem linken Strumpf.
La Mettrie sah, was
er angerichtet hatte, und begann wieder zu lachen. »Da sage noch einer, ein
Dichter habe mit seiner Feder keine Macht. Dabei kann er damit sogar diejenigen
verletzen, die des Lesens unkundig sind. Was sagen Sie nun?« Im nächsten Moment
war er wieder auf den Beinen und schubste Quantz zwischen den Papierhaufen
hindurch nach draußen. Ehe er es sich versah, stand Quantz im Gang vor der Tür.
Innen drehte sich der Schlüssel im Schloss.
»Monsieur«, rief er
und hämmerte gegen das Holz. »Machen Sie auf. Sofort.«
»Lecken Sie mich da,
wo es am dunkelsten ist«, kam es in exzellentem Deutsch von drinnen. Dann wurde
es still.
***
Die Tür öffnete
sich, und der alte Kilian trat ein. Viel zu langsam, viel zu devot.
Weyhe blickte auf
die Depesche des Königs, auf die klare, knappe Botschaft, die direkt aus dem
Sommerschloss kam.
Wir ahnen, dass ein System von Desertionen im Gange ist.
Geh Er dem System auf den Grund.
Das Wort
»System« war jeweils unterstrichen.
Anstatt ihn direkt
anzusprechen, blieb Kilian eine Mannslänge vor dem Schreibtisch stehen und
drehte nervös den Hut in seiner Hand.
»Ist Er hergekommen,
um mir beim Schreiben zuzusehen?«, fragte Weyhe schließlich.
»Nein.«
»Warum sagt Er dann
nichts?«
»Ihr seid
beschäftigt, und ich will Euch nicht stören.«
»Wenn Er mich stört,
werde ich es Ihm schon sagen. Ich würde mir wünschen, dass Er etwas
selbstbewusster auftreten würde.«
»Selbstbewusster?«
Weyhe unterdrückte
ein Seufzen. Mit den beiden Brüdern hatte er sicher noch eine Menge Arbeit.
Aber es war auch kein Wunder, dass ihnen der Wille fehlte, sich zu behaupten
und durchzusetzen. In einer Residenzstadt, wo die Uniform mehr zählte als der
gesunde Menschenverstand, waren zivile Verbrechensermittler dem Militär
unterlegen. Oder sie fühlten sich zumindest so.
Seine Majestät war
der Ansicht, dass bereits die Uniform als solche auf den Bürger und erst recht
auf den Verdächtigen einen so starken Eindruck machte, dass er gar nicht anders
konnte, als die Wahrheit zu sagen. Dass der Bürger in den Tressen, Schnüren,
Farben und all dem anderen sozusagen den Glanz des Königs und dessen Macht
selbst erblickte und so das Gefühl hatte, unmittelbar der Gewalt Seiner
Majestät gegenüberzustehen.
Weyhe tauschte sich
in den Gesprächen mit dem König immer über zivile Beamte aus, die Ermittlungen
durchführten. Er hatte gelesen, dass der französische König mit einer solchen
»Criminalpolicey« aus zivilen gens d’armes gute
Erfahrungen machte – zumal sich die Bediensteten hinter ihrer zivilen Kluft
besser verstecken konnten. Niemand sah ihnen an, dass sie königliche Beamte
waren. Sie konnten unauffällig in Schenken und Vergnügungshäusern Erkenntnisse
sammeln. Sie konnten sich stets als einfache Bürger ausgeben. Auf diese Weise
kamen sie an Informationen, die Soldaten, vor deren Anblick jeder gleich
zusammenzuckte, unzugänglich geblieben wären.
Doch Weyhe war klar,
dass diese neuartige Methode der Ermittlung in Potsdam schnell an ihre Grenzen
stieß. Die Stadt war zu klein. Es war für jedermann leicht herauszubringen,
dass seine beiden Kilians in irgendeiner Weise im Dienste des Königs standen.
Außerdem waren die beiden diese Art von Arbeit nicht gewohnt. Das Prinzip des französischen
Königs, das in der Riesenstadt Paris funktionierte, ließ sich nicht einfach auf
Preußen übertragen. Man musste es den hiesigen Gegebenheiten anpassen. Und man
musste die Leute, die man dafür brauchte, erst einmal ausbilden.
Viel Arbeit, dachte
Weyhe, schloss die Mappe mit der königlichen Depesche und nahm sich vor, mit
den beiden Kilians etwas nachsichtiger zu sein. Vorerst.
»Wenn Er etwas zu
sagen hat, dann wünsche ich, dass Er freiheraus damit zur Sprache kommt. Seine
Beobachtungen sind wichtig. Und sie sind dringend. Er sollte sich darüber klar
sein.«
Kilian nickte und
runzelte die Stirn.
»Hat Er das
verstanden?«
»Ja,
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