Schatten über Ulldart
flackernden Schatten an der Wand betrachtete.
Leise wurde die Tür geöffnet, und ein dem Gouverneur unbekanntes Mädchen streckte neugierig den Kopf herein.
»Hast du eben geschrien?« Sie kam vorsichtig herein und setzte sich auf Lodriks Bettkante. »Du siehst aus, als ob du schlecht geträumt hättest.«
Der Junge war zu verblüfft, um etwas sagen zu können, und starrte sie einfach nur an.
Sie trug ein dunkelrotes, reichlich mit Goldfäden besticktes Samtkleid, das eng am Körper anlag und ihre weiblichen Formen hervorhob. Lange, schwarze Haare rahmten das hübsche Gesicht mit den braunen, leicht mandelförmigen Augen ein, eine kleine Narbe an der rechten Schläfe verlieh ihr etwas Draufgängerisches. Von der Statur her war sie zwar wesentlich schmaler als Lodrik, dafür überragte sie ihn um mindestens einen Kopf.
»Bist du stumm?«, sagte das Mädchen und schaute ihn besorgt an. »Oder soll ich lieber einen der Diener holen?«
Der nass geschwitzte Gouverneur blinzelte, während er sich aufsetzte.
»Nein, das ist nicht notwendig. Ich habe in der Tat schlecht geschlafen.« Er faltete die Hände und schaute sie an. »Um ehrlich zu sein, es war ein grauenvoller Albtraum. Ein Kullak wollte mich fressen.«
»Ich kenne niemanden, der da nicht geschrien hätte«, gab sie zu und lächelte sanft.
»O doch, ich kenne einen, der einen Kullak besiegt hat«, meinte Lodrik und rückte das Kissen in seinem Rücken zurecht. »Die Diener haben erzählt, wie sich die Wachen über Waljakov unterhalten haben. Er muss dem Ungeheuer den entscheidenden Treffer zugefügt haben.
Ohne Rücksicht auf sein eigenes Leben hat er angegriffen, nur um das meinige und das seiner Männer zu retten.«
»Das klingt nach einem entweder sehr mutigen oder sehr leichtsinnigen Mann«, schätzte sie und schaute sich im Raum um. »Dann bist du also der neue Gouverneur.«
»Ja«, Lodrik zögerte. »Warum?«
»Du hast uns schließlich eingeladen«. Der Statthalter machte ein ratloses Gesicht. »Eigentlich hast du meinen Vater eingeladen, Ijuscha Miklanowo. Erinnerst du dich jetzt?«
Lodriks Gedächtnis kehrte zurück. »Ach, ja. Der einzige Großbauer, den Jukolenko nicht besonders leiden kann. Ich wusste nicht, dass er eine Tochter hat. Mein Vertrauter hat nichts davon gesagt.«
»Und ich wusste nicht, dass der Gouverneur kein erwachsener Mann ist«, grinste das Mädchen. »Ich habe dich zuerst für den Sohn des Gouverneurs gehalten.« Sie musterte ihn neugierig. »Du bist ganz schön dick.«
Der Junge war einen Moment sprachlos. »Und du bist ganz schön unverschämt. Ich bin der Gouverneur, da kannst du doch nicht einfach solche Sachen zu mir sagen, auch wenn sie stimmen«, protestierte er. »Und du siehst aus … wie … eine lange Dachlatte!«
»Jetzt bist du unverschämt.« Sie spielte die Empörte und warf die Haare zurück, dann lachte sie. »Aber du hast auch Recht. Meine Mutter war sehr groß. Und sehr hübsch.« Ihre Augen funkelten, und sie sah abwartend zu Lodrik.
»Das kann sein. Ich kenne sie nicht«, sagte der Junge anstatt des erhofften Kompliments, und das Mädchen stand auf. Ihr Gesicht zeigte Missbilligung.
»Ich gehe lieber. Mein Vater wird mich schon suchen.«
»Wohin wolltest du eigentlich?«
»Ich habe den Palast noch nie von innen gesehen, und da Vater gerade mit einem Mann namens Stoiko Gijuschka redet, bin ich auf eigene Faust losgezogen.«
»So etwas kann ein schlimmes Ende nehmen.« Lodrik zog die Decke über den Kopf. »Glaub mir, ich weiß, wovon ich rede.«
Leise fiel die Tür ins Schloss, das Mädchen war verschwunden.
»Ich weiß noch nicht mal ihren Namen«, murmelte der Junge und schloss die Augen, »aber ihre Zunge ist mir zu scharf.«
Nach weiteren zwei Tagen fühlte sich Lodrik wieder genesen. Neugierig hatte er sich zwischendurch nach seiner Besucherin erkundigt.
Die Tochter des Großbauern hieß Norina, sagte zumindest Stoiko, war zwei Jahre älter als der Gouverneur und begleitete ihren Vater auf allen wichtigen Geschäftsreisen, um so viel wie möglich zu lernen.
Miklanowos Äußerungen nach sollte die Tochter als einziges Kind später den Hof und die Güter übernehmen, was nicht den gängigen Traditionen entsprach. Normalerweise musste die Tochter im Falle des Fehlens eines männlichen Erben einen anderen Großbauern oder dessen Sohn heiraten, aber dass eine Tochter selbst die Zügel in die Hand nahm, war noch nie vorgekommen. Vater und Tochter schienen in jeder Hinsicht ungewöhnlich
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