Schattenauge
Und natürlich – wie immer – Ellen und David. Heute hatten sie sie verfolgt, auf Davids Motorrad. Noch jetzt konnte sie die Anspannung in ihren Beinmuskeln fühlen, die Starre, die es ihr im Traum unmöglich machte, von der Stelle zu kommen. Ihr Puls hämmerte in ihrer Kehle und an ihrer Schläfe.
»So-i?«
Und schon wieder Leon, dachte sie ganz benommen. Ihr Mund war so trocken, dass sie ihre Zunge vorsichtig vom Gaumen lösen musste, bevor sie ihrem kleinen Bruder antworten konnte.
»Was ist denn, Löwe?«, flüsterte sie. »Kannst du nicht schlafen?«
Statt ihr eine Antwort zu geben, kletterte ihr Bruder auf das Bett, krabbelte hastig mit spitzen Knien und Ellenbogen über ihren Bauch. »Autsch«, sagte Zoë. »Pass doch auf, ich bin nicht dein Stoffhase!«
Er kroch zu ihr unter die Decke. Seine verschwitzte Kinderstirn presste sich an ihren Oberarm. »Da war ein Räuber«, sagte er mit ganz kleiner Stimme. »Er hat komische Augen gehabt. Die haben geglüht.«
Ach, du wurdest auch im Traum verfolgt? , dachte Zoë.
Das war die andere Seite ihres kleinen Bruders: tagsüber ein trotziges Ungeheuer, nachts ein kleiner, zaghafter Junge, dem jeder Schatten Angst machte.
Als hätte Leons Traumbild auch ihre Gespenster zum Leben erweckt, ergriff die Unruhe sie wieder: ein elektrischer Impuls in jeder Zelle ihres Körpers, der sie dazu drängte, aufzuspringen und hinauszurennen. Nur mit Mühe gelang es ihr, sich zusammenzureißen.
»Ist gut, der Räuber ist doch jetzt weg«, murmelte sie und nahm Leon tröstend in den Arm. »Mach die Augen wieder zu, hier passiert dir bestimmt nichts. Ich passe auf, dass er nicht mehr herkommt.«
So widerspenstig er am Tag war, so leicht ließ ihr Bruder sich später in der Dunkelheit überzeugen. Little Leon und Mr Hyde .
»Warum kommt Elli nicht mehr her?«, fragte er plötzlich.
Zoë seufzte. War ja klar, dass das wieder einmal kommen musste. Ihr Bruder liebte Ellen und konnte nicht verstehen, dass sie nie wieder hier auftauchen würde.
»Sie hat jetzt eben andere Freunde und keine Zeit mehr«, erwiderte Zoë knapp.
»Und wo ist Mama?«, quengelte er weiter.
»Mama muss arbeiten. Sie hat dir gestern Abend ganz viele Abschiedsküsse gegeben, das weißt du doch bestimmt noch.«
»Nein«, sagte er mit einem Anflug seines trotzigen Tages-Ichs. »Weiß ich gar nicht mehr.«
»Aber klar. Du und Mama, ihr habt Spaghetti ohne Knoblauch gegessen. Ich hatte keinen Hunger. Du hast gekleckert. Und Mama hat sich mit einer Nudel einen Spaghettischnurrbart unter die Nase geklebt, damit du lachst.«
Leon lauschte und zupfte am Träger ihres Shirts, gedankenverloren, fast schon wieder im Schlaf.
»Und danach hat sie dich umarmt und dir sechs Küsse gegeben«, flüsterte ihm Zoë ins Ohr. »Für jeden Tag, den du weg bist, einen. Weil du morgen mit deinem Papa und mit Andrea für eine ganze Woche wegfährst. Stimmt’s?«
»Hmm.«
»Freust du dich schon?«
Ein schwaches, klebriges Nicken an ihrem Schlüsselbein.
»Andrea hat sicher einen Kuchen gebacken«, sagte Zoë. »Mit Gummibärchen obendrauf.«
»Gummihasen«, kam es schläfrig von unten.
»Ach ja? Dann hat sie den Gummibärchen die Ohren lang gezogen und kleine Hasen daraus gemacht?«, raunte Zoë. Sie lauschte, doch von Leon kam keine Antwort mehr. Sein Kopf wurde mit jedem Atemzug schwerer.
Zoë spähte zum Wecker. Es musste Vollmond sein, im Zimmer war es erstaunlich hell. Halb drei. Und ihr Herz raste immer noch, als hätte sie Fieber. Ungeduld zuckte in ihren Muskeln. Obwohl das Fenster geschlossen war, hörte sie, wie auf der Straße ein paar Betrunkene grölten und jemand seltsam heiser lachte. Und da war noch ein anderer Laut, ein Aufkreischen – vielleicht von einer Katz e –, das ihr durch und durch ging. Plötzlich hielt sie es nicht mehr aus – weder die Wärme des Bettes noch Leons Nähe, nicht einmal das Gewicht seines Kopfes. Vorsichtig entzog sie sich ihm, rollte dann hastig aus dem Bett und floh aus dem Zimmer. Erst als sie in der Küche das Fenster aufriss und sie in der kalten Nachtluft Gänsehaut bekam, hatte sie das Gefühl, wieder Luft zu kriegen. Sie klammerte sich am Tisch fest und atmete eine ganze Weile, während etwas Dumpfes, Beängstigendes in ihrem Bauch pochte. Fühlte sich so etwa eine Panikattacke an?
Am liebsten hätte sie ihre Schlüssel geschnappt und wäre zum Tanzen gegangen, irgendwohin, wo Musik war und die Bässe das Pochen überlagerten. Aber natürlich ging das
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