Schattenauge
auf das Chaos auf dem Boden. Der Plastikfalter rutschte vom Mäppchen zu Boden und klappte beim Aufprall wieder auf, als würde er ihr auffordernd zuwinken. Sonntag: Buddha Lounge, prangte dort in Irves’ Schrift.
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Ich hatte zu lange geschlafen. Draußen war es bereits Nacht, und wenn mein Zeitgefühl mich nicht täuschte, sogar weit nach Mitternacht. Ich stellte fest, dass ich mit dem Kopf auf meinem Stadtplan eingeschlafen war – einfach dort, wo ich gesessen hatte, auf dem Boden. Vorsichtig drehte ich mich auf den Rücken.
»Hey!«, sagte eine vertraute Stimme. Im ersten Moment konnte ich Irves nur als kopfstehenden Schattenriss wahrnehmen. Er saß mit angezogenen Beinen auf meinem Fensterbrett, nur mit seiner hellgrauen Jeans bekleidet, und natürlich war er barfuß. Mantel, Schuhe und den Rest hatte er vermutlich unten im Hof deponiert. Ich überlegte, ob er jemals durch meine Tür gegangen war wie jeder normale Mensch. Vermutlich nicht.
»Gizmo hat nicht übertrieben«, sagte er mit einem Blick auf mein Bein. »Was hast du dir dabei gedacht, Maurice in die Krallen zu springen? Hast du wirklich geglaubt, dass du noch Welpenschutz genießt?«
Welpe . Sehr witzig.
Ich hätte auf Irves sauer sein müssen und das war ich auch. Aber irgendwo im hintersten Winkel meines Zorns wusste ich auch, dass mein Schlamassel in diesem Fall zu neunzig Prozent meine eigene Schuld war.
»Du kannst jedenfalls nicht behaupten, ich hätte dich nicht gewarnt«, setzte Irves nun auch prompt hinzu.
»Halt einfach die Klappe, okay?«, sagte ich mit belegter Stimme. Gut, ich konnte nicht behaupten, dass ich in meiner Verfassung in der Lage gewesen wäre, eine Lektion von Irves einzustecken. Andererseits war er zur Abwechslung auf meinem Territorium. »Was willst du überhaupt hier?«
»Komm raus aus deiner Papierhöhle, Hitzkopf«, sagte er gönnerhaft. »Du kannst etwas Abkühlung vertragen.«
Der Muskelkater war nicht besser geworden. Das Bein war vom Zustand des allgemeinen Schmerzes in den Zustand gemeinen Schmerzes übergegangen.
»Wie spät ist es?«, wollte ich wissen, während ich aufstand und zu meinem Kleiderregal humpelte.
»Fast halb drei. Sonntagmorgen. Deine Schicht fängt in zwei Stunden an.«
Ich schüttelte nur den Kopf und gab mir einige Sekunden, um diese Information mit allen Konsequenzen einzuordnen. Halb drei. Hoffentlich kam Zoë nicht genau jetzt auf die Idee, auf die Straße zu gehen. Und wenn sie doch draußen sein sollte, war sie hoffentlich mit ihrem Freund in der Südstadt unterwegs, inmitten von Feiernden. Oder – noch besser – sie lag in ihrem Bett und schlief tief und fest.
Ich nahm eine Shorts und ein T-Shirt vom Regal und zog mich vorsichtig an. »Hast du es gewusst?«, fragte ich so ruhig wie möglich.
»Was?«
»Dass Maurice einer von den ganz Großen ist!«
Irves wirkte beeindruckt, aber nicht sehr überrascht.
»Ich habe nur davon gehört«, antwortete er betont gleichgültig. »Aber man hört vieles. Nur bin ich im Gegensatz zu dir nicht scharf drauf, jedes Gerücht gleich zu überprüfen.« Er machte eine Pause, bevor er leiser fragte: »Und?« Nun schwang vibrierende Anspannung in seinem Tonfall mit, ein Interesse, das er zu verbergen suchte.
»Amurtiger«, murmelte ich.
Irves stieß einen Pfiff aus. »Erinnerst du dich daran?«
»Nur ein kurzer Flashback«, antwortete ich. »Aber einer, auf den ich verzichten könnte.«
Er schien ein wenig enttäuscht zu sein, aber er nickte und streckte mir die Hand hin. Das hieß etwas bei Irves. Und es hieß etwas bei mir, dass ich sie trotz allem nahm. Ich umfasste sein Handgelenk und spürte, wie sich seine Finger um meines schlossen. Dann ließ ich mich über das Fensterbrett nach draußen ziehen. Erst als ich auf den steil abfallenden Dachziegeln balancierte, fühlte ich mich wieder sicher. Irves lief bereits voraus, mit lautlosen Schritten erklomm er die Schräge und ließ sich genau neben dem Kamin auf dem Dachfirst nieder. Ich brauchte einige Sekunden länger, um mich hochzuquälen, aber als ich endlich mit dem Rücken gegen den roten Backstein gelehnt dasaß, ging es mir tatsächlich ein ganzes Stück besser.
»So-iiii?«
Eine kleine kalte Hand an ihrer Schulter, schneller Atem an ihrer Schläfe. Sie tauchte aus einem Traum hoch, der so tief und schrecklich war, dass nur noch die Farbe in ihrem Hirn nachglühte: ein gleißendes, bedrohliches Graublau. Die Ahnung von Schattenlöchern. Ode r … Augen?
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