Schattenauge
vor. Doch die Unruhe war keinen Deut besser. Außerdem knurrte ihr Magen. Sie sprang auf, riss den Kühlschrank auf und kniff die Augen zusammen, so hell war das Licht, das darin aufleuchtete. Die Gerüche schlugen ihr so überdeutlich entgegen, dass ihr beinahe übel wurde. Das Aroma der übrig gebliebenen Tomatensoße, Käse, der Milchduft von Butter – und ein anderer, fremder Geruch, der ihr das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ. Sie griff zwischen die Behälter und zerrte eine noch verschweißte Schale aus dem untersten Fach. Plastikgeruch – und inmitten all der Chemie dieser schmelzende, starke Duft, der ein Ziehen in ihrem Kiefer hervorrief. Viel zu fest schlug sie die Kühlschranktür zu und riss die Plastikfolie von der Kunststoffschale ab. Ein Mosaik aus Aromen füllte ihren Kopf und dockte an ihrem Gaumen an. Sie konnte es schmecken! Wie Duft, den sie mit der Zunge am Gaumen verreiben konnte. Die Folie segelte zu Boden. Dann gruben sich ihre Finger in die kalte, nasse Masse von klebrigen Würfeln.
Das machst du nicht wirklich, Zoë!, dachte sie entsetzt, während sie ein rohes Stück Rindergulasch nahm und es sich vor die Nase hielt. Sie zögerte, doch es war schwer, sich zu beherrschen. Dann steckte sie es in den Mund und biss zu. Fasern knirschten, und es war so kalt, dass ihre Zähne schmerzten. Aber es schmeckte – ganz anders als Fleisch, eigentlich nach nichts und dann wieder nach allem. Alle Farben löschen sich gegenseitig aus und werden zu Weiß. Zoë schloss die Augen und spürte dem Widerstand zwischen ihren Zähnen nach. Dann hielt sie erschrocken inne, warf die Schale auf den Tisch und spuckte das Fleischstück aus. Panik flammte in ihr auf. Sie würgte und stolperte zurück, bis sie an die Spüle stieß.
Keine Sorge, Mama. Ich bin nicht schwanger. Ich werde nur verrückt.
Sie warf das Fleischstück in den Mülleimer, riss ein Stück Tuch von der Küchenrolle ab und wischte sich angewidert über die Finger und über den Mund. Nachdem sie die Schale wieder im Kühlschrank verstaut hatte, rannte sie aus der Küche, schnappte sich eine noch ungebügelte Jogginghose und eine Fleece-Jacke aus dem Haufen trockener Wäsche und zog sich an. Sie nahm die Schlüssel am Frotteearmband, die sie immer zum Joggen mitnahm. Die Haustür lehnte sie nur an und stellte einen von Leons Schuhen draußen auf die Fußmatte – das Zeichen zwischen Leon und ihr, dass sie gleich wiederkommen würde. Dann rannte sie.
Es tat unendlich gut, die Kälte in den Lungen zu spüren. Obwohl die Straßenbeleuchtung ausgeschaltet war, erkannte sie jede Einzelheit. An der Straße bei der Bushaltestelle standen zwei Damen, die wohl irgendwo gefeiert hatten. Sie trugen schmal geschnittene, teure Mäntel und standen nur da, als würden sie auf den Bus warten, der um halb drei Uhr morgens ganz sicher nicht kommen würde. Wahrscheinlich warteten sie auf ein Taxi.
Zoë fegte an ihnen vorbei und wurde schneller. Am Ende der Straße bog sie ab. Die Sorge, dass Leon aufwachen würde, spornte sie an, noch schneller zu laufen. Frau Thalis hätte sie für diese Art zu laufen sofort zusammengestaucht. Aber in gewisser Weise tat das Brennen in den Beinmuskeln sogar gut. Fünf Minuten um den Block und dann wieder nach Hause . Die dunklen Toreinfahrten glitten an ihr vorbei, dann setzte die Trance der verschwimmenden Umgebung ein, die sie am Laufen so liebte. Nur noch ihr Atem, die Strecke und das Gleiten. Sie erreichte das Ende des Häuserblocks, legte sich in die Kurve und schnellte weiter. Lange bevor sie an der Kneipe vorbeikam, hörte sie den Lärm. Dort wurde immer noch gefeiert. Ein paar Leute standen an der Straße und ließen ein kleines Straßenfeuerwerk los: handtellergroße, rotierende Funkenscheiben in einem gleißenden Weiß, die sich auf dem Asphalt bewegten. Lachende Gesichter leuchteten gespenstisch im tanzenden Licht auf. Eine Frau trug eine grüne Plastikperücke. Zoë wurde langsamer und wechselte die Straßenseite. Dort, im Schatten hinter den geparkten Autos, würde sie hoffentlich unbemerkt von den Feiernden vorbeilaufen können. Unwillkürlich duckte sie sich, als das unangenehme Zischen der nächsten Funkenscheibe erklang. Im Laufen sah sie nach rechts. Und wurde im selben Moment entdeckt.
»Guckt mal, die joggt!«, rief ein Mann und prostete ihr mit der Bierflasche zu.
»Hey! Hey! Hey!«, feuerte sie ein anderer im Takt ihrer Schritte an. Die grünhaarige Frau fiel mit ein und klatschte in die Hände
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