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Schattenauge

Schattenauge

Titel: Schattenauge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Blazon
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– und schon hatte Zoë einen Pulk um sich, der ihr mit Klatschen und Rufen auf die Sprünge helfen wollte, als wäre sie bei einem Marathonlauf. Zoë gab ihre Deckung auf und wurde wieder schneller. Das hatte gerade noch gefehlt! Im Stockwerk über der Kneipe flog bereits ein Fenster auf. Eine entnervte Frau beschwerte sich über den Lärm und drohte, die Polizei zu rufen, wenn nicht bald Ruhe wäre.
    Zoë wollte sich gerade wieder auf den Weg konzentrieren, als sie den Mann entdeckte. Derselbe, der sie gestern beim Kiosk angesprochen hatte. Er hielt sich etwas abseits der Gruppe, vielleicht war er ein Teil von ihr, vielleicht war er aber auch gerade aus der Gasse getreten. Im zitternden Schein des verlöschenden Feuerwerks erkannte sie sein Gesicht in aller Deutlichkeit. Offenbar hatte er sich geprügelt oder war gestürzt. Jedenfalls hatte er an Hals und Kieferlinie ein paar dünne Kratzer. Heute trug er keinen schwarzen Jogginganzug, sondern Stoffhosen, die ehemals hell gewesen waren, nun aber verfärbt waren – grünlich, als hätte er ungeschickt versucht, sie zu färben. Oder als wäre er im Fluss geschwommen . Aber das war natürlich absurd. Auch auf seinem weißen Unterhemd zeichneten sich schlierenförmige Flecken ab. Während die Kneipengäste mit der Anwohnerin diskutierten, starrte er Zoë nur an.
    Sie zuckte zusammen, als ihr die Sicht auf die Kneipe plötzlich von einem geparkten Lieferwagen abgeschnitten wurde. Zwei Atemzüge, drei große Laufschritte, dann war sie am Wagen vorbei. Die Kneipe tauchte wieder in ihrem Sichtfeld auf. Und der Mann war verschwunden.
     
    Ich fragte mich, warum Irves hier war. Er hatte gesehen, dass ich so weit in Ordnung war, an jedem anderen Tag wäre er spätestens jetzt wieder gegangen. Verstohlen betrachtete ich ihn von der Seite. Irves hatte für alles einen Grund. Und offenbar wollte er etwas von mir. Nun, ich wollte ja auch etwas von ihm: Informationen.
    »Ist denn nie etwas passiert?«, wollte ich wissen. »Keine schwere Verletzung? Ode r … Schlimmeres?«
    Irves stand auf und klopfte sich den Staub von der Jeans.
    »Klar doch«, erwiderte er beinahe gleichgültig. »Das passiert schon mal. Letztes Jahr ist einer zu schnell gefahren. Saß auf einem Motorrad und überholt e …«
    »Ich rede nicht von Unfällen«, fuhr ich ihm ungeduldig dazwischen. »Ich meine – wurde schon mal jemand getötet? Vo n … einem anderen?«
    Nun wandte er sich mir zu. Ein Ziegel knirschte bedenklich unter seinem Fuß, aber er kümmerte sich nicht darum. Er balancierte mühelos sein Gewicht aus, ohne auch nur die Arme ausstrecken zu müssen. Ich mochte es nicht, wenn er so auf mich herunterschaute, aber ich hatte auch keine Lust aufzustehen.
    »Nein«, antwortete er spöttisch. »Wir sind ja schließlich keine Bestien.«
    Wie auf Knopfdruck erschien Ghaezels Gesicht vor mir. Und mit ihren Zügen die Erinnerung an einen zusammengekrümmten Körper. Wie immer war es wie ein Schlag. Ich hätte Irves etwas über Bestien erzählen können, aber ich hielt wohlweislich die Klappe.
    »Nicht?«, fragte ich leise. »Niemals? Kannst du es überhaupt wissen?«
    »Für einen Neuen stellst du aber ganz schön viele Fragen«, sagte er.
    »Schon möglich«, erwiderte ich. »Und man kann nicht behaupten, dass ich viele Antworten bekomme.«
    Er lachte zwar, aber an der Spannung in seinen Schultern konnte ich sehen, dass da noch etwas anderes war. Irgend etwas trieb ihn um und brachte ihn zum Grübeln.
    »Du denkst also, Maurice ist eine Bestie?«, fragte er nachdenklich. »Und du denkst wirklich, er hält sich nicht an den Kodex?«
    »Kommt auf die Definition von ›Bestie‹ an. Vielleicht haben wir alle schon mal im Blackout jemanden zur Strecke gebracht.«
    Ich zuckte unwillkürlich zusammen, als er auf mich zukam. Aber er lief nur wieder zum höchsten Punkt des Daches und ging in die Hocke. Ohne zu schwanken, balancierte er mit den Fußballen auf dem Dachfirst, die Ellenbogen auf die Knie gestützt. Sein Blick war so konzentriert in die Ferne gerichtet, dass ich überzeugt war, er habe meine Gegenwart vollkommen vergessen. Für einige Momente waren wir so weit voneinander entfernt wie nie zuvor. Zwei Leute, die das Schicksal zufällig mit den gleichen Symptomen geschlagen hatte.
    »Hast du nie etwas gehört?«, fragte ich weiter. »Du bist schon ein Jahr länger als ich in der Stadt. Ist denn nie was vorgefallen? Vielleicht war sogar Maurice dabei?«
    Irves rieb die Hände, bog die

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