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Schattenauge

Schattenauge

Titel: Schattenauge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Blazon
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auf das Rad seines Rollstuhls. »Und was nützt es? Was soll ich dir erzählen? Dass wir mächtig waren und demütig, dass es uns schon immer gab und du nur die Sagen lesen müsstest, die Märchen, die Bibel, die Schöpfungsmythen, um es zu begreifen? Lies die Geschichten über den Helden Herkules, Holzkopf, lies etwas über den König Lynkaios, der alle Fähigkeiten eines Luchses besaß. Lies über dieAcademia dei Lincei – die Akademie der Luchse, der auch Galileo angehörte. Lies alles über die mächtigen Osiris-Priester und über das afrikanische Volk der Dahomey, die sich ›Leopardenkinder‹ nannten, weil ihre Ahnen aus der Vereinigung zwischen einem Menschen und einer Leopardin hervorgingen. Und dann sieh dich in dieser Stadt hier um und du wirst eines erkennen: Wir sind schon lange keine Wächter mehr, wir sind am Ende. Die kläglichen Überreste einer sterbenden Art, irgendwo in der Grauzone zwischen Mensch und Katze treibend, nutzlos und dumm, nicht wert zu überleben. Zerfleischt euch gegenseitig oder lasst euch töten, haltet euch an den Kodex oder nicht, mir ist es längst gleichgültig. Ich habe euch schon vor vielen Jahren aufgegeben.«
    Beim Blick in mein fassungsloses Gesicht zeigte er ein böses, lauerndes Lächeln und fügte hinzu: »Ach ja, zu deiner ursprünglichen Frage: Maurice oder nicht Maurice? Ich gebe dir mal ein hübsches Zitat von Meister Buñuel: Man muss erst beginnen, sein Gedächtnis zu verlieren, und sei’s nur stückweise, um sich darüber klar zu werden, dass das Gedächtnis unser ganzes Leben ist. Ein Leben ohne Gedächtnis wäre kein Leben. Unser Gedächtnis ist unser Zusammenhalt, unser Grund, unser Handeln, unser Gefühl. Ohne Gedächtnis sind wir nichts. « Er beugte sich ein Stück vor. »Was übersetzt bedeutet: Vielleicht hast du ja auch selbst Barbara Villier getötet? Kannst du es wissen? Nein, denn ohne Gedächtnis bist du niemand. Ein nutzloses Nichts.«
    Die Wut kam wie ein Reflex, so schnell, dass die veränderte Wahrnehmung wie ein Schock war. Ich presste die geballten Fäuste in die Achselhöhlen und riss mich mit aller Kraft zusammen, doch es nützte nichts. Das Rot knipste weg, der Geruch nach dem Schmierfett des Rollstuhls, nach durchgesessenem Leder und nach pergamentener Altmännerhaut nebelte mich ein, überlagert von den Facetten »Raubtier«, »Gefahr«, »Drohung«, »Metall«. Und: »Waffen-Öl«.
    Ein Klicken hallte wie Donner in meinen Ohren wider. Dann blickte ich direkt in die Mündung eines Revolvers, dessen Hahn gespannt war.
    » Quod erat demonstrandum «, sagte Rubio triumphierend. »Und du bildest dir ein, deine Gabe einfach so zurückweisen zu können wie ein verwöhntes Kommunionskind ein Stück Torte? Zu spät, Junge. Schau dich im Spiegel an, da hast du den Gegenbeweis. Und jetzt geh mir aus dem Weg und komm nie wieder in meine Nähe!«
    Die Überraschung zog mich weg von der Grenze – hin zum ganz normalen Dasein eines Menschen, der seine Haut retten wollte. Das macht er nicht! , dachte ich. Er wird mich nicht erschießen.
    »Ich würde es nicht ausprobieren«, knurrte Rubio. »Ich habe nicht viel zu verlieren. Und im Notfall werde ich sagen, es war deine Waffe, mit der du mich bedroht hast.«
    Die Schlagzeilen konnte ich förmlich schon vor mir sehen: »Rentner schießt jugendlichen Gangster in Notwehr nieder.« Wahrscheinlich würde er dafür noch als großer Held gefeiert werden.
    Er betrachtete mich mit einer seltsamen Faszination und dieser Unschärfe in den Augen. Der Blick glitt über meine Arme und verharrte neben mir, als würde er etwas ganz anderes sehen. Eine Sekunde maßen wir noch stumm unsere Kräfte, dann trat ich zur Seite und machte ihm den Weg frei. Besser so, als dass ich wartete, bis die Wut wiederkam.
    Rubio senkte sofort die Waffe. Mir schien, als sei er sogar erleichtert. Seine Schultern sanken nach unten. Plötzlich war er nur noch ein müder alter Mann. Er fuhr an mir vorbei und kehrte mir den Rücken zu, während er den Rollstuhl mühsam über die kleine Rampe bugsierte.
    »Soll ich dir was sagen, Gil?«, murmelte er, ohne sich umzusehen. »Dinge ändern sich. Unser Leben steht auf Messers Schneide. Hier ist es gefährlich geworden. Zieh weiter, such dir eine andere Stadt, solange es noch nicht zu spät ist.«
    »Das habe ich schon getan, nur deshalb bin ich hier gelandet«, erwiderte ich heftig. »Ich werde sicher nicht noch einmal weglaufen.«
    Er winkte nur müde ab. »Kein Revier gehört dir auf

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