Schattenauge
zerknüllt. Ich schnaubte und versuchte den Impuls niederzukämpfen, mich an der Mauer hochzuhangeln und einfach die verdammte Scheibe einzuschlagen. Stattdessen zog ich ein Stück Papier und einen Filzstift aus der Tasche und schrieb alle meine Kontaktnummern und Fragen geduldig noch einmal auf. Nach einigem Überlegen opferte ich schließlich auch noch die Tageszeitung, auf der Barbs Bild prangte, und stopfte sie ebenfalls in den Briefkasten.
Ich war versucht, mich in das Café gegenüber zu setzen. Aber dort konnte er mich warten sehen. Also tat ich so, als würde ich aufgeben. Ich blickte demonstrativ auf meine neue Armbanduhr und lief die Treppen in den U-Bahn-Schacht hinunter. Unterirdisch lief ich den Bahnsteig entlang und kam auf der anderen Seite, außerhalb von Rubios Blickfeld, wieder auf die Straße. Von dort war es nicht mehr weit bis zur Tankstelle. Hier gab es zwar nur ein paar Stehtische neben dem Getränkeautomaten, aber Stehen war für mich ohnehin angenehmer. Das einzig Erträgliche aus dem Automaten war die Fleischbrühe. Besser als gar kein Frühstück. Ich knallte den Stapel Papier, den ich mitgenommen hatte, auf den klebrigen Tisch. Die Skizze von Zoë rutschte aus dem Stapel und segelte zu Boden. Ich hatte versucht, ihren wütenden Gesichtsausdruck einzufangen, die Anspannung vor dem Moment, in dem sie Lederjacke geschlagen hatte. Aber die Zeichnung war mir nicht besonders gut gelungen. Ich hob sie auf und schob sie in den Stapel zu den anderen. Ich zückte den Stift und konzentrierte mich auf den Kodex.
Wir verteidigen , schrieb ich. Daneben malte ich wieder mal ein Fragezeichen. Niemals töten wir Angehörige unserer Art.Unser Sein ist geheim, unser Platz der Schatten, das Schweigen.Wir weichen oder nehmen uns den Raum. Jeder für sich, keiner für alle. Aber alle schützen das Geheimnis unserer Art. Gesetz der Panthera.
Nachdenklich betrachtete ich den Kodex. Wie so oft, kam er mir auch heute unwirklich vor. Wie ein Überrest aus einer längst vergangenen Zeit. Und heute erschien es mir mehr denn je so, als würde etwas fehlen. Ich setzte den Stift wieder an und schrieb meine eigenen Überlegungen dazu:
Kein Gesetz funktioniert ohne Strafe . Aber was, wenn jemand mordet und einfach nichts geschieht? Wen verteidigen? Warum? Warum sind wir so? Wen trifft es? Oder, setzte ich schließlich noch hinzu , sind wir alle bereits gestraft?
Es dauerte fünf Stunden. Inzwischen war ich so entnervt, dass ich schon zu meinem Posten unter dem Fenster zurückkehren wollte, als ich Rubio auf die Tankstelle zurollen sah. Er war wirklich klapprig, sein Körper zusammengeschnurrt, nur seine Knie ragten in einem so spitzen Winkel über den Rollstuhlrand heraus, dass ich immerhin erahnen konnte, wie hochgewachsen er in seiner Jugend gewesen sein musste. Im Schneckentempo rollte er zum Kühlfach mit den Getränken. Auf gewisse Weise war ich enttäuscht. Ich hatte ihn mir weniger tattrig vorgestellt. Sollte Gizmo doch Recht haben? Nur ein alter Mann? Und dazu offenbar noch ein alter Mann, der ängstlich war. Immer wieder sah er sich zur Glastür um und spähte besorgt auf die Straße, als würde er befürchten, dass ihm jemand folgte.
Dabei fiel mir ein Anhänger um seinen Hals auf – eine Art länglicher Plastikstick mit einem roten Knopf. Der Ambulanz-Notfunk für allein lebende alte Leute? Für einen Augenblick war ich versucht, ihn einfach in Ruhe zu lassen. Aber nur für einen Augenblick.
Mühsam wuchtete er sich ein Sechserpack mit Bierdosen auf die Knie und bugsierte ihn und sich selbst zur Kasse. Ich beeilte mich nicht sonderlich damit, meine Sachen wieder zusammenzuraffen und ihm nach draußen zu folgen. Aus reiner Gewohnheit (folge nie einem von uns direkt) machte ich einen Bogen, ging auf der Parallelstraße voraus und lauschte dem Surren seines Rollstuhls. Einige Meter vor seiner Haustür trat ich wieder auf die Straße. Von hinten sah er noch schmaler und zerbrechlicher aus. Das letzte Stück schien ihn wirklich anzustrengen.
Doch plötzlich brachte er den Rollstuhl mit einem harten Ruck zum Stehen. Seine Schultern strafften sich und auch sonst schien der ganze Mann sich an unsichtbaren Fäden hochzuziehen. Er atmete zischend aus, dann wirbelte er mit einem einzigen, kräftigen Schwung herum. Nie hätte ich gedacht, dass man mit einem Rollstuhl so schnell und beweglich sein konnte. Und sein Blick … er suchte nicht, er traf mich auf Anhieb und tackerte mich auf der Stelle
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